Erleuchtung und Befreiung

Solange ein Aspirant nicht einen gewissen Grad der Erleuchtung erreicht hat, kann seine spirituelle Praxis nicht wirklich beginnen. Weder wird er seine Arbeit verstehen, noch was für ihn auf dem Spiel steht. Er wird ganz einfach ein Gefangener fantastischer Ideen und Vorstellungen über Spiritualität bleiben, die aus seinem gewöhnlichen Ich stammen und keinen Wahrheitsgehalt haben. Seine Anschauungen stellen allenfalls eine Kombination von intellektuellen Spekulationen über das Rätsel seines Wesens und seines Daseins dar, zweifellos mit guten Absichten erarbeitet, aber, wie sich zeigen wird, ohne Bezug zur Wirklichkeit. Letztendlich wird ihn das der Verwirklichung seiner wahren Natur und einem korrekten Verständnis von dem verborgenen Sinn von Leben und Tod nicht näher bringen.

Nicht nach Ergebnissen suchen

Obwohl es vollkommen richtig ist, dass der Sucher anfangs kämpfen muss, um Erleuchtung zu erlangen, ist es für ihn auch äußerst wichtig zu verstehen, dass er, paradoxerweise, seine spirituellen Übungen nicht mit der bewussten oder unbewussten Absicht praktizieren darf, Ergebnisse zu erhalten. Er muss sehr darauf achten, weder – vielleicht sogar unbewusst –ungewöhnlichen Phänomenen nachzujagen, noch ständig Ergebnisse zu erwarten oder seine Vorstellung auf das zu projizieren, was, wie er glaubt, Erleuchtung sein könnte. Solche Einstellungen bilden sicher Hindernisse für seine Bemühungen, die ständig von den Wünschen und Fantasien seines gewöhnlichen Ich gefärbt sein werden, das sich einmischt statt beiseite zu treten.  Besonders zu Beginn seiner Praxis muss er lernen, sich auf das Objekt seiner Meditation einzig aus der Liebe, das zu tun, zu konzentrieren, und aus keinem anderen Grund.

Im Allgemeinen verlieren die meisten Leute, ohne sich dessen bewusst zu sein, beim Meditieren die Geduld und lassen in der Intensität ihrer Konzentration genau in dem Moment nach, wo sie weitermachen und immer tiefer in sich selbst tauchen sollten. Daher sind sie nie imstande, eine gewisse Schwelle in ihrem Wesen zu überschreiten. Dies darf indessen nicht falsch verstanden werden; das ist keinesfalls ein Aufruf, bei seinen Versuchen brutal vorzugehen, noch Gewalt bei einer so heiligen Arbeit anzuwenden, die, ganz im Gegenteil, eine äußerst delikate Herangehensweise und ein hochsubtiles Verständnis erfordert. Obwohl es wahr ist, dass die Bemühung sehr fest und ausdauernd sein soll, muss sie, wie gesagt, gleichzeitig überaus sanft und ruhig sein, begleitet von einem Sich-selbst-Überlassen.

Die Übungsmittel, um ein subtiles ausgedehntes leuchtendes Bewusstsein erkennen zu können, welches man, ohne es zu wissen, in sich trägt.

Das Wesentliche ist, mit absoluter Gewissheit ein erhabenes Bewusstsein in sich zu erfahren und zu erkennen – ein subtiles, weites und leuchtendes Bewusstsein, das jedes Lebewesen, ohne es zu wissen, im tiefsten Wesensgrund trägt.

Es ist wichtig, sich die Tatsache zu vergegenwärtigen, dass es verschiedene Grade von Erleuchtung gibt, von einer kleinen Veränderung des Bewusstseinszustandes, die einem Sucher zu Beginn seiner Manifestation in ihm entgehen kann, bis hin zur höchsten und derart seltenen Erfahrung, in deren Verlauf er ohne jeden Zweifel das Unaussprechliche erkennt, das er in sich trägt.

Die Erleuchtung kann sich, nach einer mehr oder weniger langen Meditationspraxis manchmal sehr plötzlich und, wenn man es am wenigsten erwartet, manifestieren (alles hängt vom Niveau des Seins und Bewusstseins des Meditierenden ab), oder langsam, in Etappen, als subtile Änderung des Seins- und Bewusstseinszustandes, begleitet von einem beginnenden inneren Erwachen, das vom Aspiranten zunächst nicht verstanden werden mag.

Diese Änderung seines Bewusstseins und seines Wesens, führt ihn, wenn sie sich vertieft, zur Erfahrung der Empfindung einer großen Leere, die ihn erschüttert und anfangs den falschen Eindruck in ihm erwecken kann, eine totale Finsternis zu sein, von der er sich verschlungen sieht. Jedoch ist diese Leere, wie er letztlich entdecken wird, sicher nicht das „Nichts“, wofür er sie am Anfang ihrer Manifestation in ihm hielt.

Nur durch eine beharrliche Meditation – zu der verschiedene Konzentrationsübungen kommen, die er, trotz der Weigerung, auf die er in sich stoßen wird, inmitten der Bewegung seines aktiven Lebens auszuführen bereit sein muss, – wird es ihm möglich sein, sich selbst zu überschreiten und diese andere Form des Bewusstseins zu berühren, von deren Existenz man für gewöhnlich nichts weiß, eine Ausdehnung Makellosen Bewusstseins, mit dem verglichen sein gewöhnliches Bewusstsein, das er bis dahin für das einzig vorstellbare hielt, wie das eines Insektes oder vielmehr das eines Affen ist!

Wenn es ihm wirklich gelungen ist, dieses Leuchtende Bewusstsein in sich zu erfahren – das bis dahin im Dämmer geblieben war, verborgen durch die Nebel seines weltlichen Ich –, wird in seinem Wesen und seinem Leben eine Umkehr geschehen, und zwar so, dass alles, was er in der Vergangenheit als so wichtig und in seinen Augen als so teuer angesehen hatte und was sein ganzes Wesen und seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag genommen hatte, von nun an in einem anderen Licht gesehen werden wird und plötzlich den Einfluss auf seine Psyche verlieren wird.
Trotzdem erweist es sich als notwendig klarzustellen, dass es einem Aspiranten während der Bemühungen, die er macht, um konzentriert zu bleiben, widerfahren kann, noch vor dem Erreichen einer solchen Verwirklichung einen Vorgeschmack von dieser anderen Bewusstseinsqualität zu bekommen, einen Vorgeschmack, der ihn, wenn er nicht klug genug ist, glauben lassen kann, dass er das Ziel seiner Suche erreicht hat – was übrigens für viele Sucher der Ursprung vieler Illusionen und die Ursache von Irrtümern ist. Denn nur, weil er eine kleine Veränderung des Bewusstseins schmecken durfte, die ihn erhöhte, darf sich der Aspirant nicht erlauben, diese für etwas Vollendetes zu halten und sich auf dem auszuruhen, was er erreicht zu haben glaubt.

Die Vereinigung von Körper, Geist und Gefühl

Diese Veränderung des Bewusstseins, die so überaus wichtig ist, um ihm zu erlauben zu entdecken, wer er wirklich ist – das heißt, seine Wahre Natur zu erkennen –, kann sich in ihm erst dann vollziehen, wenn zwischen seinem Geist, seinem Gefühl und seinem Körper wenigstens ein gewisser Grad der Vereinigung stattfindet, eine Dreiheit, die sich für gewöhnlich in einer erbärmlichen Uneinigkeit befindet, wobei jeder Teil in der Welt lebt, die ihm eigen ist und gewissermaßen von der Existenz der beiden anderen nichts weiß!

Damit sich diese Vereinigung der drei Bestandteile seines Wesens verwirklichen kann, muss gerade der Geist des Suchers zunächst aus seiner gewohnten Dumpfheit erwachen und beginnen, aktiv gegenwärtig zu werden – da er im Allgemeinen nur passiv gegenwärtig ist –, denn erst, wenn der Geist genügend wach und aktiv gegenwärtig geworden ist, kann er sich mit dem Gefühl verbinden. Nun, wie die meisten seinesgleichen, lebt der Aspirant zu sehr in seinem Kopf und ist folglich von seinem Gefühl abgeschnitten, während er dieses eigentlich dringend benötigt, um ihn zu erheben und zu stützen bei seinen Bemühungen, die er notwendigerweise an sich machen muss, wenn er hofft, eines Tages das entdecken zu können, was sich in seinem Wesensgrund verborgen findet, nämlich seine Buddha-Natur, die in Wirklichkeit das Unendliche in ihm ist.

Erst wenn er einen bestimmten Grad der Intensität bei seiner Konzentration erreicht hat, kann er hoffen, sich von seiner üblichen Individualität loszumachen, um wieder zu einem ganz anderen Zustand des Seins und Bewusstseins in sich zurückzukehren, als dem, den er für gewöhnlich kannte. Er wird dann plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt, dem zuzustimmen, was ihm der beunruhigende Verlust seiner selbst zu sein scheint, um mit dem Unendlichen, das ihn ruft, verschmelzen zu können. In diesem entscheidenden Augenblick, wo für ihn so viel auf dem Spiel steht, kann er eine unerklärliche Weigerung spüren, dieses Eintauchen in sich selbst zu akzeptieren (ein Eintauchen in das, was ihm ein beunruhigendes seltsames Nichts zu sein schien). Und selbst, wenn es ihm gelungen ist, diesen inneren Widerstand zu überwinden, wird er entdecken, dass er nicht in diesem neuen Zustand bleiben kann, der anfangs zu zerbrechlich ist, um aufrechterhalten werden zu können. Daher wird er bei jedem Versuch, in sich einzutauchen, nicht anders können, als ungewollt an die Oberfläche seines Wesens zurückzuschnellen, wo er sich zu seinem Kummer als der wiederfinden wird – oder quasi als der –, den er kannte. Die Gewohnheit und bestimmte nicht transformierte Tendenzen beschweren ihn immer noch; er wird dann erkennen, dass er sich noch nicht das Recht erworben hat, im Heiligtum seines Himmlischen Monarchen zu bleiben.

Erleuchtung ist nicht Befreiung

Tatsächlich bedeutet für die große Mehrheit der Sucher die Erleuchtung (soweit sie diese erreicht haben) erst den Anfang dieser schwierigen Reise zu ihrer Befreiung. Anders gesagt, ist die Erleuchtung erst der Anfang eines Lebens der Arbeit und des Studiums, denn der Sucher darf nicht vergessen, von wo er ausgegangen ist: seine nicht transformierten Tendenzen sowie seine sexuellen und anderen Begierden werden immer wieder ihre hungrigen Köpfe erheben und ihn bedrängen.

Selbst wenn er beschließt, sich völlig aus der Welt zurückzuziehen, wird er merken, dass er früher oder später – wenn er nicht gerade eine der seltenen Ausnahmen ist – gezwungen sein wird, aus seiner Einsiedelei hervorzukommen, einerseits um die Forderungen seiner verschiedenen Wünsche zu befriedigen, andererseits um, notwendigerweise, seine spirituelle Arbeit auch im aktiven Leben in die Praxis umzusetzen.

Wenn er es nach der Entdeckung dieses leuchtenden Aspekts in seinem Wesen nicht schafft, den aufrichtigen Wunsch in sich zu entfachen, auch die dunkle Seite seiner Natur kennen zu lernen – möglicherweise in dem Glauben, dies sei aufgrund seiner erhabenen spirituellen Erfahrungen, die er gemacht hat, nicht mehr nötig –, wird er seine Befreiung sehr ungewiss, wenn nicht gar unmöglich machen.

Die Entdeckung des Erhabenen in sich bedeutet nicht die sofortige Befreiung von der Versklavung durch seine niedere Natur. Er darf dieses göttliche Licht nicht falsch nutzen, indem er nur danach trachtet, sich in die Glückseligkeit seiner Himmlischen Oase zurückzuziehen.

Wenn ein Aspirant, ohne die Folgen wirklich zu verstehen, einfach der bleibt, der er ist, dann werden diese höheren Zustände, jedesmal, wenn er sie wieder zu erreichen sucht, nur von kurzer Dauer sein und er wird, ohne den Grund dafür zu begreifen, unaufhörlich auf die Ebene zurückgeworfen werden, die seinem Entwicklungsgrad entspricht.

Wenn er den notwendigen inneren Mut aufbringen kann, sich geduldig der Wahrheit dessen, was er in sich ist, zu stellen und an seinen offenen oder versteckten negativen Eigenschaften, an seiner Unbeständigkeit und seiner Dummheit zu leiden, jedesmal wenn er sich als den sehen kann, der er ist, wird ein geheimnisvoller alchemistischer Prozess in ihm stattfinden, der die richtigen, und wahrscheinlich die einzigen Bedingungen schafft, die seine Transformation erlauben.

Obwohl er manchmal sehr unangenehme Sachen über sich entdecken kann, muss er aufpassen, diese nicht in einer negativen Weise immer wieder durchzukauen, das Licht vergessend, dass ewig dahinter strahlt und dank dessen sie gesehen werden konnten.

Artikel erschienen in Nr. 90 der Zeitschrift Le Troisième Millénaire