Kommentar zum Bardo Thödol (Auszug)

Dem Menschen, wie er im Allgemeinen ist, wird nicht bewusst, wie und wie sehr Leben und Tod direkt miteinander verbunden sind. Es kommt ihm in der ganzen Zeit, in der er in dieser Welt lebt, nie in den Sinn, dass er jeden Augenblick, der vergeht, dabei ist zu sterben; und wenn der letzte Moment kommt, an dem er seine körperliche Hülle verlassen muss, weiß er, ganz ähnlich, zunächst nicht, dass er tot ist – wie in verschiedenen mystischen Abhandlungen gesagt wird. Da die Gewohnheit sehr stark ist, glaubt er, seinen physischen Körper noch zu besitzen.

Besonders im Westen, wo der Intellekt vorherrscht, begegnet man so oft Suchern, die die Hoffnung nähren, dass, weil sie intellektuell verstanden zu haben glauben, worin eine spirituelle Lehre besteht, für sie schon alles gut gehen wird, wenn sie diese Welt verlassen werden, und dass sie zweifellos den Kreislauf von Geburt und Tod durchbrechen und damit Befreiung erlangen werden.

Um besser zu erfassen, was in diesem kritischen Augenblick des Todes geschieht, wo die vom Verstorbenen bestimmte Zukunft auf dem Spiel steht, ist es notwendig, eine Parallele zwischen verschiedenen Stadien des Zustandes nach dem Tod – so wie sie im Bardo Thödol beschrieben werden – und dem, was in der Meditation geschieht, zu ziehen.
Es ist möglich, dass der Aspirant gleich zu Beginn seiner Meditationssitzung für einen sehr kurzen Moment einen ganz besonderen Bewusstseinszustand berührt, der auf ihn den Eindruck macht, nicht nur eine einfache Leere, sondern in Wirklichkeit ein makelloser Bewusstseinszustand von höchster Subtilität und reinster Transparenz zu sein. Dieser Bewusstseinszustand, so ungewohnt und für gewöhnlich so schwer zu erfassen, hält anfangs nur zwei oder drei Sekunden an, bevor er von einem anderen Zustand abgelöst wird, der, obwohl er nicht seine übliche Verfassung des Seins ist, dennoch nicht der gleiche ist, wie der, den er anfänglich erfahren hat.

Da er den richtigen Wert dieses Bewusstseinszustandes – der ihm auf den ersten Blick so fremd ist, dass er auf ihn den Eindruck einer bedeutungslosen Leere macht – weder versteht noch zu schätzen weiß, kann der Sucher aus Unwissenheit und mangelnder Übung nicht die Kraft finden, in ihm zu bleiben; er verliert ihn sehr schnell und trotz der Tatsache, dass er weiter zu meditieren versucht, steigt er zu einem anderen Bewusstseinszustand in sich herab, der nicht mehr der ist, den er anfangs erfahren hat.

Das gleiche Phänomen – aber in einem ganz anderen Ausmaß – widerfährt einem Menschen, wenn er seinen Körper verlässt, ein Phänomen, dessen einbegriffene Auswirkungen entscheidend für seine Zukunft sind. Anders gesagt, wird der Verstorbene, wie es das Bardo Thödol erklärt, unmittelbar nach seinem Scheiden aus dieser Welt vor das Höchste Bewusstsein in seiner ursprünglichen Reinheit gestellt. Aber aufgrund fehlenden Verständnisses steigt er zu immer tieferen Seinsebenen in sich herab, bis er sich in einer mentalen Welt verloren findet, die sich in Form eines sehr beeindruckenden Panoramas manifestiert, das sich vor seinem Geist auf eine so spektakuläre Weise entfaltet, dass er es aus Unwissenheit und mangelndem Unterscheidungsvermögen für real hält.

In diesem ursprünglichen Zustand bleiben zu können – den das Bardo Thödol bald „Klares Licht“, bald „Klares Bewusstsein“ nennt – ist eine außergewöhnliche Höchstleistung, die nur das Ergebnis eines langen und beharrlichen Trainings sein kann, das in einer intensiven Meditationspraxis und in verschiedenen Konzentrationsübungen zum Ausdruck kommt, die sowohl zu Hause als auch im aktiven Leben auszuführen sind.

Gerade spezifischen Konzentrationsübungen (wie die, die ich in mehreren meiner Bücher gegeben habe), die den Aspiranten zwingen, während ihrer Durchführung intensiv gegenwärtig zu bleiben, verdankt dieser, dass er beginnen kann, im täglichen Leben ganz besondere Momente des Wieder-Bewusstwerdens (wörtlich: der Wieder-Aufnahme des Bewusstseins) zu erleben, die nach einer mehr oder weniger langen inneren Abwesenheit plötzlich zu ihm kommen – und deren Bedeutung den Suchern im Allgemeinen entgeht –, Momente des Wieder-Bewusstwerdens, die anfangs von einer inneren Wachheit begleitet werden, die er mit all seiner Kraft zu verlängern suchen muss, um eines Tages dahin zu kommen, sie nicht mehr zu verlieren. In diesen Augenblicken, die bestimmen, was seine Zukunft sein wird, muss der Aspirant verstehen, dass so, wie er eine Wahl treffen muss, um in diesem Zustand des Seins und Bewusstseins bleiben zu können, der für ihn ungewohnt ist, sich inkarnierte Wesen nach dem Tod in eine Situation versetzt sehen werden, in der eine dramatische Wahl von ihnen verlangt wird.

Übrigens betont das Bardo Thödol unermüdlich, dass sich der Verstorbene, nachdem er seinen planetarischen Körper verlassen hat, mehrmals vor zwei Lichtern oder zwei Farben finden wird, zwischen denen er wählen muss; leider wird er, aus Unwissenheit und aus Schwäche, nicht anders können, als sich dem zuzuwenden, welches trüber ist. Daher wird er, wenn er sich nicht zu Lebzeiten einer hartnäckigen spirituellen Praxis gewidmet hat, beginnen, machtlos zu immer tieferen Ebenen des Seins und Bewusstseins in sich abzusteigen, ohne in der Lage zu sein zu begreifen, was ihm geschieht.

Bewusstheit seiner selbst

Als Belohnung für all die Anstrengungen, die ein Aspirant gemacht hat, um sich von sich selbst loszulösen und so konzentriert zu bleiben, wie es ihm nur möglich ist, sowohl während seiner Meditationssitzungen, als auch während er zu verschiedenen Tageszeiten spezifische Konzentrationsübungen macht, werden – mit Hilfe der Gnade – plötzliche Momente des Wieder-Bewusstwerdens zu ihm kommen, und zwar in den Augenblicken, in denen er es am wenigsten erwartet (wenn er in sich versunken und wieder einmal von seinem gewohnten Zustand verschwommener Abwesenheit verschlungen ist), um ihn von Neuem aufzuwecken und ihn daran zu erinnern, dass es für ihn dringend notwendig ist darum zu kämpfen, innerlich so selbstgegenwärtig zu bleiben, wie er nur kann, sowohl an Länge als auch an Tiefe.

Wenn es ihm zu Lebzeiten nicht gelingt, die Wichtigkeit des Kampfes zu erfassen, den er führen muss, um in diesem neuen Zustand des Seins und Bewusstseins zu bleiben, wenn dieser in verschiedenen Augenblicken des Tages plötzlich in ihm auftritt, wie kann er da hoffen, sich angesichts des Todes nicht völlig hilflos zu fühlen, wenn sich dieser in dieser letzten Stunde vor ihm aufrichten wird, um seinen Tagen unwiderruflich ein Ende zu setzen und ihn in eine Welt zu entführen, wo die Bedingungen derart verschieden von dem sein werden, was er jetzt kennt, und denen zu begegnen er nicht vorbereitet sein wird?

Er muss verstehen, dass so, wie er diese wertvollen Augenblicke des Wieder-Bewusstwerdens, die unverhofft in ihm entstehen, verstreichen lässt und verliert, indem er unwissentlich vorzieht, sich Zuständen des Seins zuzuwenden, die ihm vertraut sind und von ihm keine Anstrengung verlangen, so wird er nach dem Tod nicht die nötige Stärke in sich finden, um die Möglichkeiten zu ergreifen, die ihm durch das Göttliche Erbarmen geboten werden, um sich von seiner gewöhnlichen inneren Welt zu befreien; er wird es vorziehen, seinen Blick eher auf das zu richten, was durch die matteren Lichter oder Farben symbolisiert wird, als auf die (Lichter), die klarer und kräftiger erscheinen und die ihn, wie im Bardo Thödol gesagt wird, blenden und beunruhigen werden.

Er wird daher nicht anders können als zu wenig wünschenswerten Ebenen des Seins zu gravitieren und die Beute fantastischer Phänomene zu werden, in etwa analog – aber in einem viel dramatischeren Maßstab – zu dem, was ihm in jedem nächtlichen Schlafzustand passiert, solange er noch seinen planetarischen Körper besitzt.

Übrigens kann ein unerleuchteter Mensch ebenfalls nicht vermeiden, die Beute all der Gedanken, Wünsche und Bilder zu werden, die in seinem Geist aufsteigen und deren Realität er aus Unwissenheit niemals bezweifelt. Jeden Augenblick gravitiert er ohnmächtig zu einem psychischen Ort, der ihm eigen ist, entsprechend seinen Wünschen, seinen Interessen und der Weise, in der er sich selbst während der Zeit schmiedet, die ihm zu leben gegeben ist.

Nächtliche Träume und Zustand nach dem Tode

Wie es das Tibetanische Totenbuch symbolisch erklärt, wird es nach dem Tod Augenblicke geben, in denen das Göttliche Erbarmen, um dem Verstorbenen zu helfen, diesen in Form einer Mahnung durch dieses Leuchtende Bewusstsein, das er zu seinen Lebzeiten in bestimmten Momenten berühren konnte, ansprechen wird. Jedoch, aufgrund einer fehlenden ernsthaften Praxis zu der Zeit, als er noch Gelegenheit dazu gehabt hätte, wird es ihm unmöglich sein, sich darin zu etablieren. Er wird nun unaufhaltsam zu immer niedrigeren psychischen Zuständen absteigen, von einem Strudel erscheinender Fantasievorstellungen ergriffen, denen er sich nicht entziehen kann.

Um dieses Problem besser zu erfassen, ist es äußerst wichtig nicht zu vergessen, dass aufgrund eines unumstößlichen Gesetzes, das die gesamte Schöpfung regiert, die Energien in der manifestierten Welt immerzu danach streben, in die Richtung zu fließen, die ihnen den geringsten Widerstand bietet, d.h. nach unten. Daher wird sich ein unerleuchteter Mensch, der zu seinen Lebzeiten keinem spirituellen Training nachgegangen ist, nach dem Tod angesichts dieser Anziehungskraft, die die Schwere in allen Bereichen ausübt, nur vollkommen machtlos finden können. Und sogar in Bezug auf jemanden, der sein Leben einer ernsthaften spirituellen Praxis geweiht hat, muss ohne Zögern nachdrücklich gesagt werden, dass er einen übermenschlichen Willen nötig haben wird, um diesem Abstieg zu entgehen, nachdem er seinen irdischen Körper verlassen hat.

Durch wiederholte Erfahrungen wird der Sucher sehen, wie zerbrechlich dieser Zustand der Wachheit ist, in dem er sich zu halten sucht. Während seiner Meditationsübungen oder seiner verschiedenen spirituellen Übungen, die er im Trubel des äußeren Lebens ausführt, wird er trotz all seiner Bemühungen, innerlich wach zu bleiben, am Anfang und noch für eine lange Zeit danach nicht umhin können, wiederholte Male von seinem gewohnten Zustand des Seins und Bewusstseins überrascht und erfasst zu werden, innerlich schlafend und träumend.

Wenn der Mensch in seinem nächtlichen Schlaf versunken ist, ist er all den Träumen, die in seinem Geist entstehen, ausgeliefert, seien diese nun angenehm oder albtraumhaft. Wenn er morgens aufwacht, ist er aufgrund der Tatsache, dass er von Neuem dazu aufgerufen ist, den verschiedenen Anforderungen des äußeren Lebens und den dringenden Bedürfnissen seines irdischen Körpers nachzukommen, in gewisser Weise vor seinen nächtlichen Träumen sicher – die ihn während der Zeit, in der sie in seinem Wesen ablaufen, ganz in Anspruch nehmen und vor denen er vollkommen hilflos ist. Nun wird es aber nach seinem Tod keinen physischen Körper mehr geben, der ihn beschäftigen kann, und auch nicht das unaufhörliche Geschrei des äußeren Lebens, die im Allgemeinen beide seine Aufmerksamkeit und sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen. Er wird sich daher, wie in seinen nächtlichen Träumen, als er noch am Leben war, nicht imstande sehen, das wirre Umherschweifen seines Geistes zu kontrollieren, während er – gemäß seinem Niveau des Seins – immer tiefer in sich herabsteigt, in eine Welt, die nur ihm alleine gehört, erfüllt von höchst beeindruckenden Halluzinationen, bis er in einen heilsamen Schlaf fällt, der ihm Vergessen von all den Dramen und unaufhörlichen Strapazen bringen wird, denen er während seiner Passage durch diese Daseinsform ausgesetzt war, bevor er, wie im Bardo Thödol gesagt wird, von den Winden des Karma getrieben wird, sich erneut zu inkarnieren – für den Fall, dass ihm bestimmt ist, ins samsarische Leben zurückzukehren. Und auf diese Weise setzen sich für ihn die Runden von Geburt und Tod immerzu fort!

Von der Wichtigkeit, eine bestimmte Leere wiederzuerkennen

Wenn er anstrebt, sich aus seiner kleinen illusorischen mentalen Welt zu befreien, muss es dem Sucher gelingen, in sich eine bestimmte Leere wiederzuerkennen – die, im Gegensatz zu dem, was sich der gewöhnliche Mensch vorstellen kann, nicht ein Nichts ist, sondern in Wirklichkeit sein Ursprüngliches Wesen –, und er muss kämpfen, darin bleiben zu können, ohne diesen Zustand des Seins zu fürchten, in dem er sich unausweichlich in dem gewaltigen Augenblick seines physischen Todes finden wird.

Angesichts ihrer wesentlichen Bedeutung für den Aspiranten, muss auf die Tatsache zurückgekommen werden, dass diese Leere oder „Shunyata“, wie sie in Indien genannt wird, in Wirklichkeit eine sehr besondere Form des Bewusstseins ist, nicht zu vergleichen mit dem gewöhnlichen Bewusstsein, in dem der Mensch auf der Straße im Allgemeinen sein Leben verbringt. Es handelt sich um ein Fleckenloses Bewusstsein von höchster Subtilität, das die Essenz des Menschen sowie ein unverletzbares Heiligtum  darstellt, in dem er Zuflucht finden kann, nicht nur während der Zeit, die ihm in dieser turbulenten Welt zu leben gewährt ist, sondern auch nach seinem körperlichen Tod.

Physisch ist es ihm unmöglich, der Schwerkraft zu entkommen, die von seiner Geburt an unaufhörlich am Werk ist, ihn ständig nach unten ziehend, bis zu dem Tag, an dem er aufgrund eines unerbittlichen Gesetzes, das die gesamte manifestierte Welt regiert, schließlich seinen Körper verlieren wird; aber psychisch kann er dieser absteigenden Kraft entgehen – sofern er sein Leben diesem Ziel weiht.

Fehlende Kontrolle nächtlicher Träume und nach dem Tod

Der Aspirant muss verstehen, dass auf die gleiche Weise, wie er keine Kontrolle über das hat, was in ihm abläuft, während er in seine nächtlichen Träume getaucht ist – weil sich nämlich jeder Gedanke, jedes Bild und jeder Wunsch, der in ihm entsteht, in seinem Geist sofort Gestalt annimmt und ihn an seine Realität glauben lässt –, so wird er nach dem Tod den unzusammenhängenden Projektionen seiner psychischen Welt ausgeliefert sein.  Wenn er nicht schon zu Lebzeiten dank spezifischer Konzentrationsübungen eine gewisse Meisterung seines Geistes erreicht hat, dann wird er in dieser schicksalhaften Stunde, wo er sich alleine in einer halluzinatorischen Welt finden wird, ohne es zu wissen, unaufhörlich all die Gedanken, Bilder und Wünsche für sich erzeugen, die in seinem Geist auftauchen, unmittelbar Form in einem höchst spektakulären Panorama annehmen und ihn an ihre Wirklichkeit glauben lassen.

Die Lehre des Tibetanischen Totenbuchs versucht genau, den Verstorbenen das Illusorische des geistigen Zustandes, in dem er sich nach dem Scheiden aus dieser Welt befindet, verstehen zu lassen. Daher wird folgende Anweisung ständig für ihn wiederholt: „Oh Edelgeborener, erkenne, dass diese Erscheinungen nur deine eigenen Gedankenformen sind. Wenn du sie nicht wiedererkennst, werden die Lichter dich in ihren Bann ziehen, die Töne werden dich mit Furcht erfüllen, die Strahlen dich erschrecken.“

Ist es übrigens nicht eine beunruhigende Feststellung, dass der Mensch, obwohl er, aus seinem nächtlichen Schlaf auftauchend, wiederholt erkennt, dass seine Träume keine wirkliche Substanz enthielten, dennoch fortfährt, sich jede Nacht von seinen Träumen forttragen zu lassen und sie gegen seinen Willen zu akzeptieren, ohne sie in Frage zu stellen? Und das Leben, ist es nicht auch eine Art unverständlicher Traum? Wenn das der Fall ist, was ist dann Illusion und wo beginnt die Wirklichkeit? Das sind beunruhigende Fragen, angesichts derer man unmöglich gleichgültig bleiben kann.

Zu lernen, in diesem Leben gegenwärtig zu sein, ist wesentlich für die Zeit nach dem Tod

Da der Mensch von dem Leuchtenden Aspekt seiner Doppelnatur abgeschnitten ist, bleibt er, wohin er auch geht und mit allem, was er im Leben erreicht, unzufrieden. Nun, diese Unfähigkeit zu „sein“ wird für ihn nach dem Weggang aus dieser Welt eine Quelle zusätzlicher Leiden darstellen.

Trotz seiner Ernsthaftigkeit und ohne dass er es erkennen mag, besteht dieses Problem auch im Aspiranten. Wenn er sich aufrichtig erforscht, wird er nicht umhin können zu bemerken, dass von Anfang seiner Übung an unmerklich ein Gefühl der Ungeduld an im nagt, das ihn drängt, seine Meditation oder seine verschiedenen spirituellen Übungen unterbrechen zu wollen, um etwas anderes zu machen.

Sein Geist, der sich bis dahin so großer Freiheit erfreut hatte zu träumen, mag es nicht, gezwungen zu werden, konzentriert zu bleiben, und beginnt, alles zu tun, was in seiner Macht steht, um ihn zu zwingen, mit seinen Bemühungen aufzuhören. Er erinnert ihn eindringlich daran, dass es da draußen zuerst so viele Probleme zu regeln gilt, oder dass er sich dringend um seine schwache Gesundheit kümmern muss, oder auch, dass die Umstände, in denen er sich an diesem Tag befindet, für eine solche Arbeit nicht günstig sind, etc.

Man muss sich bemühen, die Weigerung zu sehen, die sich hinter diesen Vorwänden verbirgt, sonst wird ein ständiger versteckter Konflikt in ihm fortbestehen, während er versucht, sich zu konzentrieren, und seine Bemühungen, die lau bleiben werden, können ihn nicht zur Entdeckung des Transzendenten Aspektes seines Wesens führen, der von ihm erwartet, dass er Ihn wiedererkennt.

Wenn es dem Aspiranten nicht gelungen ist, diesen leuchtenden Zustand in sich zu wiederzuerkennen, solange er noch seinen sterblichen Körper trägt, und wenn er nicht dahingekommen ist, sich mit ihm vertraut zu machen – und sei es nur ein wenig –, wird es ihm nicht möglich sein, diesen zu verstehen, nachdem er seine körperliche Form verlassen hat, wie ihn das Tibetanische Totenbuch ermahnt: „Bis jetzt warst du unfähig, den Tschönyi-Bardo (das Klare Licht) zu erkennen und warst daher gezwungen, so weit nach unten zu wandern. Wenn du dich jetzt fest an die Höchste Wahrheit halten möchtest, musst du ohne Ablenkung in der Verfassung des Nicht-Handelns, des Nicht-Haltens der nicht verdunkelten, leuchtenden Uranfänglichen Leere deines Geistes bleiben, (…), das ist von großer Wichtigkeit. Lass dich nicht ablenken.“

Erst, wenn er lernen wird, auch während seines aktiven Lebens mehr und mehr selbstgegenwärtig und innerlich mit dem höheren Aspekt seiner Natur verbunden zu sein – und nicht nur während der Zeit, die er seiner Meditation widmet –, wird der Aspirant unausweichlich die unerlässliche Losgelöstheit von seinem gewöhnlichen Seinszustand und von der existentiellen Welt praktizieren und sich so gut es geht vorbereiten, sich dem zu stellen, was ihn nach dem Tod erwartet.
Artikel erschienen in Nr. 52 der Zeitschrift Le Troisième Millénaire (Auszug)