12 – Die Erleuchtung

Es gibt verschiedene Grade der Erleuchtung. Wenn der Aspirant diese Erfahrung gemacht hat, d.h., wenn er ohne jeden Irrtum den höheren Aspekt seiner Natur wenigstens zu einem gewissen Grad erkannt hat, wird sich seine Arbeit dennoch auf einer anderen Ebene fortsetzen müssen. Die Erleuchtung ist nämlich noch nicht seine Befreiung. Er wird von da an geduldig kämpfen müssen, um immer wieder zu diesem reinen leuchtenden Bewusstseinsschirm, den er in sich erkannt hat, zurückzukehren, bis es ihm gelingt, permanent dort zu bleiben. Erst dann wird er die Befreiung von seinem üblichen Zustand des Seins und Bewusstseins erlangt und den Tod besiegt haben, der nicht auf der physischen Ebene liegt.

Les Fruits du Chemin de l’Eveil (Die Früchte des Weges zum Erwachen) – Kapitel 4

Es gibt verschiedene Erleuchtungsgrade, von einer kleinen Veränderung des Seins und des Bewusstseins, die dem Sucher bei ihrer ersten Manifestation in ihm entgehen kann, bis zur höchsten,  derart seltenen Erfahrung, bei der er das Unaussprechliche, das er in sich trägt, ohne jeden Zweifel erkennt.
Die Erleuchtung kann sich, infolge einer mehr oder weniger langen Manifestationspraxis, sehr plötzlich und in einem völlig unerwarteten Moment, ereignen (alles hängt vom Niveau des Seins und des Bewusstseins des Meditierenden ab), oder aber langsam in Etappen, als eine subtile Veränderung des Seins- und Bewusstseinszustandes, begleitet von einem beginnenden inneren Erwachen, das vom Aspiranten auf den ersten Blick nicht verstanden werden mag.

S’éveiller, une question de Vie ou de Mort (Erwachen: eine Frage von Leben oder Tod)

Auszüge aus Kapitel 3

Bevor sich der Aspirant entschließt, einen spirituellen Weg einzuschlagen, lebt er, ohne sich dessen bewusst zu sein, in einer Welt in sich, in der nur Dunkelheit herrscht. Wenn es ihm infolge unermüdlicher Meditation gelingt, Erleuchtung zu erlangen, bricht das Licht in ihm hervor – was bedeutet, dass er einen anderen Bewusstseinszustand berührt hat, ein leuchtendes Bewusstsein, angesichts dessen sein gewöhnliches Bewusstsein nichts als Dunkelheit ist.
Nach einer mehr oder weniger langen Meditationspraxis kann sich die Erleuchtung – alles hängt von der Stufe des Seins und des Bewusstseins des Aspiranten ab – plötzlich in ihm manifestieren, was ihn mit einem tiefen Gefühl der Verwunderung sowie mit einer seltsamen Ehrfurcht erfüllen wird, oder sie wird sich, wie es in den meisten Fällen geschieht, langsam enthüllen, als eine subtile und graduelle Veränderung seines Seins- und Bewusstseinszustandes, begleitet vom Beginn eines geheimnisvollen inneren Erwachens, das vom Sucher zunächst vollkommen unbemerkt bleiben kann.
Die Tatsache, während seiner Meditationssitzungen dieses Klare Bewusstsein erkannt und dessen herausragende Bedeutung für seine Befreiung erfasst zu haben, stellt die größte Gnade dar, die zu empfangen ein Aspirant hoffen darf, solange er noch seinen sterblichen Körper trägt; denn was kann es Wertvolleres geben, als das Unendliche in sich gefunden zu haben? Er wird nun erkennen, dass dieses Reine Durchscheinende Bewusstsein nichts anderes ist als das, was die verschiedenen Religionen „Gott“ nennen, das Ewige, das Selbst, oder auch die Buddha-Natur.
Er darf jedoch nie vergessen, dass er sich, solange er seine körperliche Hülle noch bewohnt, nicht erlauben darf, sich in dem einzurichten, was er spirituell erreichen konnte, was auch immer seine Errungenschaft sei; erst nach seinem Scheiden aus dieser Welt, wenn die Schwere nicht mehr ihren Einfluss auf sein Wesen ausübt, wird er sich ohne Risiko erlauben können, die Früchte seiner Bemühungen zu genießen.

Auszüge aus Kapitel 9

Es sollte nie die Tatsache vergessen werden, dass sich ein Sucher, im Gegensatz zu dem, was sich viele vorstellen, selbst wenn es ihm gelingt, Erleuchtung zu erlangen – aufgrund gewisser ungünstiger Neigungen, die in ihm noch nicht transformiert sind – vom letzten Ziel, von der Befreiung, die er erreichen möchte, noch weit entfernt sein kann.

Übrigens, welchen Grad spirituellen Fortschritts der Sucher auch erreichen mag, darf er sich niemals erlauben, sich auszuruhen, denn aufgrund des Gesetzes von der Schwerkraft, das alles regiert, was eine greifbare Form angenommen hat, können seine Energien, wenn er nicht eine kontinuierliche Anstrengung unternimmt, um aufzusteigen, nicht anders, als in die Richtung zu fließen, die ihnen den geringsten Widerstand bildet, das heißt, nach unten; anders gesagt, solange er lebt, riskiert er jederzeit zu verlieren, was er gewinnen konnte. Erst nach dem Tod wird er hoffen können, das zu bewahren, was er sich mit so viel Mühe erworben hat.

Inneres Erwachen und Praxis des Nada-Yoga

Auszüge aus Kapitel 3

Mitunter bringen gewisse Leute vor, sie hätten hier oder da gelesen,  dass es vorkommen könne, dass sich, ohne jede spirituelle Übung oder Meditationspraxis, eine plötzliche und radikale innere Transformation vollziehe und es daher möglich sei, auf der Stelle Erleuchtung zu erlangen. Welch ein Wunschtraum! Das ist das, was man im Englischen „wishful thinking“ nennt ( seine Wünsche für die Realität halten ). Es ist, als ob man behauptete, eine radikale und augenblickliche Veränderung in einem Dattelkern bewirken zu können und ihn ohne jede Entwicklung oder Reifung plötzlich in eine große Palme verwandeln zu können,   behangen mit essreifen Früchten. Ohne Anstrengung ist nichts möglich. Man kann ein enormes Bücherwissen und intellektuelles Wissen ansammeln, aber ohne hartnäckige spirituelle Übung kann man nicht hoffen, irgendetwas von Wert zu erreichen. Ein Dattelkern, den man in seiner Tasche aufbewahrt, kann nicht keimen. Man muss sich zunächst die Mühe machen, die Erde umzugraben, den Kern zu pflanzen und muss sich dann regelmäßig um ihn kümmern, wenn man eines Tages in den Genuss seiner Früchte kommen will. Entsprechend wird, wenn das intellektuelle Wissen, das sich ein Mensch erworben hat, nicht gleichsam in sein Wesen „eingepflanzt“ und durch fleißige Arbeit in die Praxis umgesetzt wird, nichts dabei herauskommen. Sich die Taschen bis an den Rand mit Dattelkernen zu füllen, dient zu absolut nichts, außer sich unnötig zu belasten. Man wird so arm und hungrig bleiben, wie je.

Auszüge aus Kapitel 10

Und für jeden Mann und jede Frau, die in einer spirituellen Praxis engagiert sind, müssen all die Fragen über ein so wichtiges Thema, die sich in ihnen erheben, Tag für Tag mit großem Ernst und großer Aufrichtigkeit immer wieder gestellt werden:

„Was ist die Befreiung?
Was beinhaltet die Befreiung in Wirklichkeit?
Versteht man tatsächlich, wovon man befreit werden möchte?
Kann es ohne Befreiung eine objektive und reale Wahl geben?
Gehen Wahl und Befreiung Hand in Hand?
Kann die Wahl der Befreiung vorausgehen oder ist es umgekehrt?“

Das Wort Befreiung sprudelt so oft aus dem Mund vieler Sucher hervor; verstehen sie wirklich, welcher Preis zu bezahlen ist, um ein so spektakuläres Ergebnis zu erhalten?Der Sucher muss vermeiden, sich fertige Antworten auf diese Fragen zu geben. Es ist besser, er lässt sie in der Schwebe, bis er ein Gefühl dafür bekommen hat, was für ihn persönlich die Worte „Befreiung“ und „Wahl“ umfassen. Denn die Bindungen, psychologischen Probleme und unerfüllten Wünsche variieren von einem Menschen zum anderen und sind unterschiedlicher Natur.
Die spezifischen Tendenzen, gegen die ein Aspirant manchmal sein ganzes Leben lang zu kämpfen hat, sind nicht zwangsläufig die gleichen, wie die eines anderen.