Interview

Interview mit Edward Salim Michael in der Zeitschrift Samsara

Samsara: Sie haben ein neues Buch veröffentlicht mit dem aufrüttelnden Titel: „Erwachen, eine Frage von Leben und Tod“. Können Sie diesen Titel für uns kommentieren?
Edward Salim Michael: Ja, durch diesen Titel möchte ich Aspiranten, die sich auf  einem spirituellen Weg glauben, bewusst machen, um was für eine ernste, für sie lebenswichtige Sache es geht. In Wirklichkeit handelt es sich um das Wichtigste, was es gibt, nämlich darum, was dem Leben Sinn geben und unser Dasein auf diesem Erdball rechtfertigen kann. Nun wissen die meisten Leute nicht einmal, was sie in einer spirituellen Praxis wirklich suchen und oftmals begnügen sie sich mit einer einfachen intellektuellen Herangehensweise. Außerdem fällt es ihnen schwer, die Natur der Anstrengungen, die von ihnen verlangt werden, sowie die Art Schwierigkeiten, denen sie auf ihrem Weg begegnen werden, zu verstehen.
S: Ist nicht die erste Schwierigkeit Unwissenheit?
E.S.M.: Das ist vollkommen richtig, im Dhammapada versichert Buddha, dass Unwissenheit der schlimmste Makel ist. Die Unwissenheit, um die es hier geht, ist in Wirklichkeit nicht eine intellektuelle Unkenntnis der buddhistischen Lehre oder jeder anderen Lehre, sondern die Unwissenheit um unsere wahre Natur, unsere Buddha-Natur, die wir bereits in uns tragen und die wir durch unaufhörliche Bemühungen wieder entdecken müssen, und zwar noch bevor der Tod sich unser bemächtigt.
Das Wiedererkennen dieser Buddha-Natur in uns durch direkte Erfahrung und nicht durch intellektuelle Überzeugung ist es, was Erleuchtung ausmacht. Es muss jedoch klargelegt werden, dass es verschiedene Grade der Erleuchtung gibt und dass Erleuchtung noch nicht Befreiung ist. Ein bestimmter Erleuchtungsgrad stellt in Wirklichkeit den ersten unerlässlichen Schritt dar, um mit einer echten Praxis zu beginnen, denn das ist erst dann der Fall, wenn man zwischen dem Aspekt seiner selbst, dem man entsagen sollte und dem höheren und unpersönlichen Aspekt in sich, dem man sich zuwenden sollte, klar unterschieden hat.

Aber selbst dann ist der Weg noch sehr lang. Denn solange man nicht imstande ist, ununterbrochen bei diesem Aspekt seines Wesens zu bleiben, der bereits vollkommen ist, fällt man unvermeidlich in den anderen Aspekt von sich, der der Unbeständigkeit und dem Leiden unterworfen ist, dieser niedere Aspekt von einem selbst, der nur eine Ansammlung von Einflüssen und Konditionierungen ist, wie es der Buddhismus klar dargelegt hat.

S: Das Bardo Thödol (das Totenbuch der Tibeter) spricht vom Wiedererkennen des „Klaren Lichtes“, ist das das Gleiche, wie dieser höhere Aspekt, von dem Sie sprechen?

E-S.M.: Richtig, ich habe der Frage vom Tod und der Konfrontation mit dem Klaren Licht in meinem letzten Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Weil wir diesen höheren Aspekt unserer Doppelnatur in uns tragen, wird der Sterbende im Bardo Thödol mit den Worten „Oh, Edelgeborener“ angesprochen. Wir sind in Wirklichkeit göttlichen Ursprungs.

S: Sie haben ein seltsames Wort ausgesprochen, seltsam auch für Buddhisten, nämlich das Wort „göttlich“. In Ihren Büchern benutzen Sie einen Wortschatz, der manchmal ganz buddhistisch ist, z.B. wenn Sie die Ungewissheit und die Unbeständigkeit des irdischen Daseins, sowie das Leid in dieser Existenzform betonen, und manchmal sprechen Sie wie ein Mystiker. Sie sehen sich als Buddhist an?
E-S.M.: Ich sehe mich in dem Sinne als Buddhist an, als ich im Buddhismus den vollständigsten spirituellen Weg erkenne, der gleichzeitig auf der Wichtigkeit der Arbeit an sich selbst im Leben, um unerwünschte Neigungen zu transformieren, und auf intensiver Meditation und Konzentration besteht, die beide unerlässlich sind, um in sich diesen unpersönlichen Aspekt zu entdecken, der jenseits von Zeit und Raum ist.
Wenn man sich nur damit befasst, das Funktionieren der Bestandteile unserer gewöhnlichen Persönlichkeit zu studieren, anders ausgedrückt, unseres vergänglichen und unvollkommenen Ego, verfehlt man das Ziel einer spirituellen Praxis und wird nie den höheren Aspekt erreichen können, den man in sich trägt und der nichts als Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit ist.
Andererseits, wenn man eifrig ausschließlich diesen höheren Aspekt ergründen möchte und die Erforschung seiner selbst und seiner unerwünschten Tendenzen vernachlässigt, wird man nicht weit kommen und ständig von dem belastet werden, was in einem noch nicht transformiert ist.
Wie Sie hervorgehoben haben, stimmt meine Sicht von der Welt mit der des Buddhismus überein, ich sehe die Unbeständigkeit all dessen, worauf mein Blick fällt, sowie das Leid, das alle Wesen heimsucht, deren grundlegende Unzufriedenheit, durch nichts erfüllt werden zu können, was zur Welt der Sinne gehört.

Sicher fühle ich mich als Mystiker, denn dank Erfahrungen, die über jeden Zweifel erhaben sind, weiß ich, dass etwas Höheres existiert als das kleine gewöhnliche Ich des Menschen.

S: Würden Sie sagen, dass es im Buddhismus eine Mystik gibt?
E-S.M.: Für mich kann es nicht anders sein, da jede echte spirituelle Suche in die Erfahrung der Transzendenz münden muss.
Der religiöse Kontext der verschiedenen Welttraditionen mag sich unterscheiden, aber die innere Erfahrung ist die gleiche. Katherina von Siena erklärte: „Mein Ich ist Gott“, ein berühmter Sufi wurde getötet, weil er versichert hatte: „Ich bin Gott“ und Ramana Maharshi sagte: „Das vom Mentalen gereinigte Bewusstsein wird als Gott empfunden“.
Bei vielen Buddhisten besteht zur Zeit ein Unverständnis über das Ziel ihrer Praxis, was ganz schädlich für sie ist und sie zudem daran hindert, die Art Anstrengung zu verstehen, die von ihnen gefordert wird, um eines Tages zum Erwachen zu gelangen.

Tatsächlich ist Gott nicht der ehrwürdige Alte, von Engeln getragen, so wie er von Michelangelo in dem aufsehenerregenden Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle dargestellt wurde. Es ist im Abendland schwierig, sich von Wortassoziationen zu befreien, die auf kulturellen Mustern beruhen, die einen anthropomorphen Gott darstellen.

S: Aber Sie selbst, aus welcher Religion kommen Sie?
E-S.M.: Meine Eltern haben keine Religion ausgeübt und ich erinnere mich nicht, als Kind jemals eine Kultstätte betreten zu haben. Wir haben in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens gewohnt, wo wir Schlimmes mitgemacht haben; meine Eltern waren anglo-indischer Abstammung und wir sind mehrmals Massakern entgangen, die von fanatischen Religionsanhängern verübt wurden. Ich habe mir eine tiefe Abneigung gegen jeden blinden Glauben bewahrt.

Aufgrund dieses speziellen Hintergrundes bin ich nie zur Schule gegangen und habe erst mit 19 Jahren Lesen und Schreiben gelernt; wir kamen nach England, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Als britischer Staatsbürger wurde ich zur Royal Air Force als einfacher Soldat des Bodenpersonals eingezogen. Dort traf ich einen überaus gütigen Geistlichen, der mir die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens beibrachte. Meine mangelhafte Bildung war für mich stets ein ernsthaftes Hindernis; und auf dem Gebiet der Grammatik war ich immer auf die Hilfe meiner Frau angewiesen, um die Übersetzung des Dhammapada sowie das Schreiben meiner Bücher erfolgreich zu beenden.

S.: Können Sie uns von den Umständen erzählen, die ihr spirituelles Engagement bestimmten?
E-S.M.: Ein paar Jahre nach dem Krieg machte ich die Bekanntschaft eines Mannes mit hohen spirituellen Zielen. Bei ihm sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Buddhastatue. Es war die ziemlich große Statue eines Buddhas, in Meditationshaltung sitzend, fast einen Meter hoch, mit farbigen Steinen überzogen, die im Licht glitzerten. Dieses heitere Gesicht mit seinen geschlossenen Augen ließ in mir ein unmöglich zu beschreibendes Gefühl aufsteigen, so als ob ich mich an etwas erinnern wollte, das zu einer unergründlichen Vergangenheit gehörte, ohne dass ich es in Worte formulieren konnte. Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich, ich weiß nicht durch welche geheimnisvolle Kraft getrieben, die gleiche Haltung wie dieser Buddha einzunehmen:  ich schloss die Augen und begann zu meditieren!
Sofort fühlte ich die Notwendigkeit einer intensiven Konzentration, nicht nur während der Meditation, sondern auch während des tätigen Lebens, und um das zu erreichen erfand ich alle Arten von Konzentrationsübungen. Ich muss sagen, dass ich privilegiert war, schnell kraftvolle spirituelle Erfahrungen zu machen, die mir ohne jeden Zweifel erlauben zu sagen, dass es im Menschen etwas anderes gibt, das ihn übersteigt, etwas, das alleine ihn erfüllen kann.
Die Existenz und die Natur dieser Transzendenz bleiben ein Gegenstand für Kontroversen bei denen, die bloß eine intellektuelle Herangehensweise an den Buddhismus haben; aber diejenigen, die diese Erfahrung in einem ausreichend starken Grad gemacht haben, erkennen sich gegenseitig und verstehen vollständig die Beschreibungen, die im Laufe der Zeitalter davon gemacht worden sind, sei es durch einen Zen-Meister wie Dogen oder einen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart.
Aufgenommene Ideen und die (aus einer Konditionierung herrührende)Aversion, die man gegen bestimmte Worte empfinden mag, müssen überwunden werden, um zu verstehen, dass das Göttliche, oder Brahman (ein hinduistischer Ausdruck), die gleiche Erfahrung darstellt, wie die Buddha-Natur. Und dieses Absolute kann und muss erfahren werden, bevor der Tod uns hinwegrafft. Ist nicht eines der außergewöhnlichsten Dinge, die wir als Menschen haben, die Möglichkeit dieser kolossalen Entdeckung?
Dank einer intensiven Konzentration während der Meditation, die einem Sucher erlaubt, sich von seinem gewöhnlichen Zustand des Seins und des Bewusstseins zu lösen, kann das Unendliche als ein Zustand reinen ätherischen Bewusstseins erfasst werden, in dem man seine gewohnte Individualität verliert; es handelt sich um eine heilige Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern der Dharmakaya, dieses grundlegende Klare Licht, im Bardo Thodöl mit folgenden Worten beschrieben:
„Und jetzt bist du dabei, es in seiner Wirklichkeit im Bardozustand zu erleben; in diesem Bardozustand ist alles wie der wolkenlose Himmel und der reine nackte Geist gleicht einer durchscheinenden Leere ohne Umfang oder Mittelpunkt. In diesem Augenblick erkenne dich selbst und bleibe in diesem Zustand.“

Anders gesagt, diese eindringliche Mahnung „erkenne dich selbst“ assoziiert mit „bleibe in diesem Zustand“ bedeutet, dass unsere wahres Ich, unsere wahre Natur, ein Zustand ist, ein unpersönlicher Zustand von größter Subtilität, der uns von allen Begrenzungen und Unvollkommenheiten befreit, die mit der Individualität verknüpft sind.

S: Die Anleitungen des Bardo Thödol werden gerade deswegen vorgelesen, damit Personen, die zu Lebzeiten dieses Klare Licht nicht erkannt haben, im Moment des Todes befreit werden können.
E-S.M.: Diese Worte gelten nicht nur für den Zustand, den man nach dem Tod erfährt, sondern auch für den Zustand, den man durch geeignete Anstrengungen während der Meditation erfahren soll. Obwohl es ganz wichtig und notwendig ist, einen Sterbenden darauf vorzubereiten, seine Gedanken in dem Augenblick, in dem er diese Welt verlässt, auf etwas sehr Erhabenes zu richten, muss man verstehen, so wie es im Text selbst und in Kommentaren zum Bardo Thödol deutlich wiederholt wird, dass, wenn jemand diesen Zustand, und sei es in einem schwachen Grad, nicht zu Lebzeiten gekannt hat, es ihm nach dem Tod nicht mehr möglich sein wird.

Es gibt eine spezifische Arbeit des Verzichts auf das Haften am Greifbaren und an der Welt der Sinne, der geschehen muss, solange man sich noch in seinem Körper befindet, sowie des Verzichts auf die gewöhnliche Individualität, die die Leute fälschlich für sich selbst halten.

S: Genau, was den Buddhismus vom Hinduismus unterschieden hat, ist das Bestehen Buddhas auf der Tatsache, dass es nichts Permanentes gibt, das man als sich selbst bezeichnen könnte.
E.S.M.: Es muss eine klare Unterscheidung getroffen werden zwischen dem gewöhnlichen Ich (das im Christentum mit „der alte Mensch“ bezeichnet wird) und dem Selbst, das im Hinduismus auch Atman (und in der gegenwärtigen christlichen Sprache auch Seele oder Geist ) genannt wird. Man muss Buddha wieder in den indischen Kontext seiner Epoche stellen. Man hat die Tendenz zu vergessen, dass Er Inder war und dass seine Lehre daher von dem kulturellen Rahmen des Hinduismus genährt war.
Er wies den Begriff „Jiva“ zurück, d.h. die Tatsache, dass ein Mensch, am Ende seines Lebens angekommen, der bleibt, der er ist, und einfach seinen verbrauchten Körper ablegt, um in einer endlosen Verkettung von Existenzen einen neuen zu finden. Er bestand auf der Tatsache, dass sich der Mensch von Augenblick zu Augenblick verändert und dass seine gewöhnliche Individualität, die gleichzeitig aus den Einflüssen seiner Umgebung und aus der Weise, in der er gelebt hat, resultiert, nach dem Tod nicht unverändert fortbestehen kann – eine Auffassung, die der Wunschvorstellung der Leute entspricht und der man in Indien und sogar im Westen ständig begegnet.
Hingegen ist die Identität von Atman und Brahman, d.h. die Identität zwischen der höheren Natur des Menschen und dem höchsten Göttlichen, etwas, das im hinduistischen kulturellen Kontext selbstverständlich war und das Buddha in folgender Sutra bestätigt hat: „Es gibt, ihr Mönche, ein Nichtgeborenes, ein Nichtgewordenes, ein Nichtgeschaffenes, ein Nichtgestaltetes. Wenn es, ihr Mönche, dieses Nichtgeborene, Nichtgewordene, Nichtgeschaffene, Nichtgestaltete nicht gäbe, so wäre für das Geborene, das Gewordene, das Geschaffene, das Gestaltete kein Ausweg zu erkennen. Aber da es, ihr Mönche, ein Nichtgeborenes, ein Nichtgewordenes, ein Nichtgeschaffenes, ein Nichtgestaltetes gibt, ist für das Geborene, das Gewordene, das Geschaffene, das Gestaltete ein Ausweg zu erkennen.“ (Udhâna, VIII).
Man findet dieses Wissen im Christentum wieder, wenn gesagt wird, dass der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen wurde und dass seine Seele unsterblich ist. Man muss hier verstehen, dass es sich um den unpersönlichen Aspekt seines Wesens handelt und nicht, wie sich die Leute das in einer naiven Weise vorstellen, um ihr gewöhnliches Ich oder Ego.
Es sind diese Unwissenheit und dieser Aspekt ihres Wesens, die die Quelle allen Leides sind, das die Menschen heimsucht, und darum hat Buddha gesagt: „Entfernt diesen Makel und werdet rein, ihr Mönche.“