Die Rolle der großen Musik im Dasein

Bevor er sich ganz seinem spirituellen Weg widmete, war Edward Salim Michael Komponist sinfonischer Musik. Er bietet daher im doppelten Lichte des Mystikers und des Musikers die Hilfe, die die große sinfonische Musik der Welt und einem Sucher auf dem Weg bringen kann, unter der Voraussetzung, dass man weiß, was und wie man hören soll.

Seine Lehrer waren drei der größten Meister seiner Zeit, nämlich Bertold Goldschmidt (Schüler von Hindemith), Matyas Seiber (Schüler von Zoltan Kodaly) und vor allem Nadia Boulanger (Schülerin von Fauré), bei der er Anfang der Fünfziger Jahre studierte.
Seine sinfonischen Kompositionen (die er mit seinem ersten Vornamen Edward signierte) wurden sowohl in Frankreich als auch in anderen Ländern aufgeführt und bis zum Ende der Sechziger Jahre oft von Radio France ausgestrahlt. Sie wurden immer wärmstens vom Publikum aufgenommen. Er erhielt mehrere wichtige Preise, darunter einen für seine „Nocturne“ für Flöte und Orchester, verliehen in den Vereinigten Staaten von einer Jury, zu der Igor Stravinsky, Aaron Copland und andere berühmte Komponisten gehörten.
Nach kraftvollen mystischen Erfahrungen komponierte er eine Messe für Chöre und Orchester, die mehrmals aufgeführt wurde und die in der musikalischen Welt große Aufmerksamkeit fand.

Als er sich nach Indien begab, wo er sieben Jahre verbrachte, hörte Edward Salim Michael schließlich ganz auf, Musik zu komponieren, um sich seinen spirituellen Übungen zu widmen. Nach seiner Rückkehr begann er, seine Bücher zu schreiben und die Früchte seines Verstehens und seiner spirituellen Erfahrungen zu lehren.
Bevor wir uns damit beschäftigen, welche Rolle die große Musik im Leben spielen kann, ist es notwendig, auf ein beunruhigendes Phänomen einzugehen, das sich des zeitgenössischen Menschen bemächtigt hat, nämlich, dass es für ihn zu einer Besessenheit geworden ist, danach zu streben, ein Maximum an intellektuellem Wissen über die Schöpfung und über das Leben anzusammeln, mit der Folge, dass er nur noch in seinem Kopf lebt, völlig von seinem Gefühl abgeschnitten. Nun erweist sich aber diese Weise zu sein als ein schweres Hindernis auf dem Gebiet der Spiritualität, wo Gefühl und Intuition eine entscheidende Rolle spielen.

Obwohl der Intellekt im Dasein und, bis zu einem gewissen Punkt, auch in einer spirituellen Suche seinen Platz hat, kann er doch nie das Mittel sein, durch welches der Mensch zu einem echten Verständnis des Rätsels der Quelle kommen kann, aus der er entsprungen ist. Weder durch einfache vernunftmäßige Gedankengänge noch durch endlose mentale Manipulationen wird es dem Menschen gelingen, mit seinem Ursprünglichen Wesen rückverbunden zu werden, wohl aber durch ausdauernde Bemühungen der Konzentration und der Meditation.
Eine Tendenz, die man bei Abendländern (und gegenwärtig auch bei Indern) antrifft, besteht darin zu glauben, dass sie eine Sache, weil sie diese mit ihrem Intellekt kennen, zwangsläufig verstanden haben. Sie machen sich offenbar nicht klar, dass, eine Sache mit dem Intellekt zu kennen und das, was man intellektuell kennt, zu verstehen, zwei verschiedene Dinge sind, so weit voneinander entfernt, wie Tag und Nacht. Das, was man kennt, wirklich zu verstehen, bildet eine Kraft und eine Errungenschaft, die man nie wieder verlieren können wird.

César Franck 1822-1890

Ein aufrichtiger Aspirant kann in der großen Musik eine unverhoffte Hilfe finden, um dahin zu kommen, die Wichtigkeit des Gefühls auf einem spirituellen Weg zu spüren. Es ist wirklich erstaunlich, dass es die Musik bestimmter großer Komponisten wie durch ein Wunder schafft, Personen, die sie hören, zu erheben, indem sie ihnen ohne ihr Wissen eine Tür zu anderen Dimensionen öffnet, die mit einem unergründlichen Aspekt in deren Natur verbunden sind.
Sie kann so geheimnisvoll auf das Wesen eines empfänglichen Zuhörers einwirken, indem sie ihn an eine Stelle in sich selbst versetzt, wo er sich üblicherweise nie befindet, wobei sie in ihm das seltsame Gefühl von der Existenz anderer Dimensionen wachruft, jenseits des Greifbaren, von wo diese musikalischen Schöpfungen aufgetaucht sind und mit denen diese großen Komponisten im Augenblick ihrer Inspiration auf eine für gewöhnlich unerklärliche Weise in Kontakt gekommen sind, vielleicht ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein.

Gustav Holst 1874-1934

Aber damit derjenige, der zuhört, die Botschaft verstehen kann, die die Musik eines großen Komponisten ihm zu übermitteln versucht, muss er bereits etwas von dieser geheimnisvollen Wahrheit in sich haben. Genauso ist es mit jeder authentischen spirituellen Lehre. Ein Aspirant kann von einer ernsthaften spirituellen Lehre nicht berührt werden, wenn er nicht wenigstens ein gewisses Niveau an Bewusstsein, Sein und Intelligenz besitzt, dank dessen allein es ihm möglich sein wird, die hohe Bedeutung für sich zu erahnen.
Unter den existierenden Hauptkunstformen ist die Musik wahrscheinlich die wichtigste und ganz offensichtlich diejenige, die im Leben am meisten angewendet wird. Tatsächlich gibt es keine Zeremonien oder andere Manifestationen, die nicht von einer passenden Musik begleitet werden, um sie zu unterstützen, seien sie nun religiöser, theatralischer oder gar militärischer Art.
Musik ist echte Magie, fähig, all das aus einem Menschen hervorzuholen, was gewaltsam, erniedrigend und vulgär ist oder, im Gegensatz dazu, geheimnisvolle Gefühle in ihm zu erwecken, die ihn zu einer anderen Ebene des Seins erheben. Die große Musik kann ihn manchmal so seltsame Zustände der Liebe empfinden lassen, dass er sich zu Tränen gerührt sieht. In anderen Momenten erhebt sie ihn durch so ungewohnte und rätselhafte Gefühlsregungen, dass sie ihn tief in sein Wesen versenkt, um ihn ein völlig anderes Universum erahnen zu lassen, das in ihm wohnt und von dessen Existenz in sich er im Allgemeinen nichts weiß.

Die Kunst des Wortes ist sicher nützlich und notwendig und kann, unter gewissen Umständen, den Menschen Kenntnisse bringen, die für sie andernfalls unzugänglich blieben. Indessen, abhängig von den verschiedenen Konditionierungen, die sie durchlaufen haben, sowie von der Weise, in der sie gelebt haben, ist die Gefahr zu entstellen, was ihnen übermittelt wurde, nicht unerheblich – Entstellungen, die oft eine Vielfalt gegensätzlicher Glauben entstehen lassen, was zu Reibungen und Streitigkeiten sogar innerhalb derselben Gemeinschaft oder Religion führt.

In der Malkunst gibt es keine Worte mehr; sie haben keinen Platz in einem Gebiet, wo einzig die Augen dessen, der betrachtet, beteiligt sind, die geheimnisvolle Botschaft zu empfangen, die der Künstler auszudrücken versucht. Ein großes Kunstwerk wird im Allgemeinen von der Person, die es betrachtet, schweigend wahrgenommen. Angesichts einer Kathedrale, einer Skulptur von Michelangelo oder einem Gemälde von Raphael kann man nur hingerissen sein von der Schönheit, die von diesen ausstrahlt.
Es ist unmöglich, nicht zu ahnen, dass die Urheber solcher Meisterwerke, vielleicht ohne es zu wissen, mit einer rätselhaften Welt in Kontakt waren, die sich nicht auf das Sichtbare bezieht und von wo sie ihre erstaunlichen Inspirationen bekommen konnten.

Ottorino Respighi 1879-1936

Was die Musik betrifft (die manchmal einen so gewaltigen Einfluss auf das Wesen des Menschen ausüben kann, dass er davon nur beunruhigt sein kann), wird diese direkt im Gefühl dessen, der ihr lauscht, aufgenommen. Der Mund und das Auge bleiben sozusagen geschlossen, und wie bei der Malerei verlieren Worte jede Bedeutung vor dieser geheimnisvollen universellen Wahrheit, die, je nach Empfänglichkeitsgrad, von allen Völkern der Erde aufgefangen und erfasst werden kann, ganz gleich, welche Sprache, Kultur oder Religion sie haben.

Die geheimnisvolle Ekstase, die die Musik mancher großer Komponisten in den Interpreten hervorruft, muss die Zuhörer ebenfalls berühren – sofern die Stufe ihres Seins hoch genug ist, um sie für das empfänglich zu machen, was ihnen ein solches musikalisches Werk in diesen erhabenen Momenten zu vermitteln sucht.

Es ist für den Aspiranten wichtig festzustellen, dass es gerade das Gefühl ist, das einem großen Pianisten die Fähigkeit gibt, aus dem Gedächtnis enorm komplexe Werke, die Tausende von Noten sowie zahllose Veränderungen von Harmonie, Melodielinien und Rhythmen enthalten, aufzuführen, ohne Fehler zu machen. Das gleiche Prinzip lässt sich auf den Sucher anwenden; er muss erkennen, dass es sein Gefühl ist, das seinen Geist und seinen Körper auf eine Weise verbinden kann, die ihm erlaubt, seine Meditation und andere spirituelle Übungen mit der nötigen Intensität zu machen, um mit einer anderen Welt in sich in Beziehung gesetzt zu werden, einer leuchtenden Welt, die er, wenn er sensibel genug ist, nur als geheiligt erkennen kann.

Man kann nur voller Bewunderung sein angesichts der herausragenden Spitzenleistung, zu der es ein außergewöhnlicher Pianist bringt, nicht nur mit seinem Gedächtnis, sondern auch mit seinen Händen, während sein Gefühl, sein Geist und sein Körper im Einklang miteinander arbeiten.

Der Aspirant muss sich immer daran erinnern, dass es das Gefühl ist, das, wenn es erhöht ist, die Fähigkeit besitzt, Körper und Geist zu vereinen. Wenn diese Vereinigung in einem hohen Maße über einen genügend langen Zeitraum hinweg geschieht, kann der Mensch wahre Spitzenleistungen vollbringen.

Wenn der Sucher wirklich dahin kommt zu erkennen, was für eine entscheidende Rolle das Gefühl im Leben spielen kann, wird er dem Intellekt nicht erlauben, so weit von ihm Besitz zu ergreifen, dass er sein Gefühl erstickt.
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Paul Dukas 1865-1935

Die Art von Schauspiel, Unterhaltung oder Musik, zu der die Masse der Menschen gemeinhin gezogen wird, ist leider so banal und entwürdigend – oder sogar schädlich –, dass sie nur dazu beitragen kann, jene immer weiter von der Möglichkeit zu entfernen, höhere Zustände des Seins in sich zu erreichen.

Angesichts der Bedeutung der Rolle, die die Musik im Leben spielt, muss erneut betont werden, dass diese echte Magie ist, fähig, den, der ihr zuhört, zu erniedrigen und zu entwürdigen oder ihn zu erhöhen und ihn in leuchtende Regionen in seinem Wesen zu heben. Ein kluger Aspirant muss sich daher sehr aufmerksam zeigen in Bezug auf das, was er für harmlos zu halten riskiert, was ihn aber ernstlich beschweren und seinen spirituellen Fortschritt verzögern kann.

Wenn er zu erfassen sucht, was so rätselhaft in seinem Wesen vor sich geht, während er bestimmte sinfonische Musikwerke hört, die in ihm ein Gefühl des Geheimnisvollen hervorrufen – wie das gigantische Werk von Gustav Holst mit dem Titel „Die Planeten“ oder „Der Märtyrer von Saint-Sébastien“ für Chor und Orchester von Claude Debussy, oder auch „La Péri“ von Paul Dukas –, wird ein empfindsamer Sucher, begabt mit einer geschärften Sensibilität, bemerken, dass in ihm ein innerlicher Abstieg stattfindet, der einen echten Platzwechsel im innerlichen Raum seines Wesens darstellt, einen Platzwechsel, der sich als wertvoller Hinweis auf das erweisen wird, was er in seinen spirituellen Übungen wiederzufinden versuchen muss.

So helfen diese großen Künstler den Zuhörern durch die Empfindungen vom Geheimnisvollen, die ihre Musik in ihnen erzeugt, indem sie ihnen, wie bereits gesagt, die Möglichkeit bietet, an einen Ort in ihrem Wesen versetzt zu werden, an dem sie sich normalerweise nicht befinden.  In der Tat führen sie einen Ortswechsel  im inneren Raum desjenigen herbei, der ihre Werke hört, ohne das Letzterer notwendigerweise wahrnimmt, was in ihm vor sich geht. Damit helfen die Schöpfungen eines großen Komponisten der Menschheit auf eine Weise, die diese nicht ahnen kann.

Es muss jedoch betont werden, dass sich der Intellekt des zeitgenössischen Menschen bis zu einem solch dramatischen Punkt entwickelt hat, dass er es schließlich geschafft hat, gnadenlos jedes ästhetische und erhabene Gefühl im Leben zu zerstören. Dieses Phänomen hat die verschiedenen künstlerischen (und spirituellen) Bereiche von heute nicht ausgespart; aus diesem Grund sind die zeitgenössischen Kunstwerke, die aus einer intellektuellen Idee und nicht aus einem ästhetischen Gefühl geboren werden, nichts als einfache, degenerierte Abstraktionen, ohne jeden Sinn. Durch die Aufgabe der Tonalität und er Harmoniegesetze ist insbesondere die sinfonische Musik eine Folge von lächerlichen, kalten, unharmonischen und krankhaften Tönen geworden.

Claude Debussy 1862-1918

Die Harmoniegesetze beruhen nicht auf willkürlichen Regeln, sondern auf einem im Laufe der Jahrhunderte durchgeführten Studium der Wellenlängen der verschiedenen Noten und ihrer Obertöne, die für gewöhnlich unhörbar sind. Daher ist die Musik, wenn sie konstruiert wird, indem Noten auf grammatikalisch falsche Weise kombiniert werden, dabei, ohne dass er es merkt, das Wesen des Zuhörers zu zerstören, während er fortfährt, ihr zu lauschen.

In eine bestimmte Richtung gelenkt, kann die Aufmerksamkeit zu einem machtvollen Instrument werden. Sie kann, sei es der Welt schaden, wenn sie von jemand ohne Skrupel gebraucht wird, sei es die Menschen zu göttlichen Höhen erheben, wenn sie von einem großen Künstler oder einem Heiligen angewendet wird.
Es ist immer die Aufmerksamkeit, die an dem beteiligt ist, was sich im Menschen und in allem, was er im äußeren Leben tut, abspielt – sei es zum Guten oder zum Schlechten. Nur dank seiner hochentwickelten Aufmerksamkeit gelingt es einem großen Komponisten, so außergewöhnliche Musikwerke zu schaffen, dass sie die Zuhörer so hoch erheben, um sie völlig ungewohnte Empfindungen erleben zu lassen, die sie auf andere Weise unmöglich hätten fühlen können – Empfindungen, die sich auf eine Erhabene Welt beziehen, bewohnt von „Devas“ (Götter) und „Gandharvas“ (himmlische Musiker).

Das Meisterwerk von Claude Debussy mit dem Titel „La Mer“ ist ein verblüffendes Beispiel für eine Komposition von größter musikalischer und orchestraler Komplexität, die immense Anstrengungen an Konzentration vonseiten der Ausführenden erfordert. Tatsächlich würde das falsche Einsetzen einer Oboe, einer Trompete, eines Schlaginstrumentes etc., von den Zuhörern als unverzeihlicher Fehler angesehen werden. Dieses große Genie ist in Wirklichkeit dabei, alle Mitglieder des Orchesters Konzentration zu lehren, wobei sie das nicht einmal merken – eine anhaltende Konzentration, die auch von einem Aspiranten während seiner Meditationsübungen gefordert wird.

Übrigens erzieht Debussy während der Zeit, die dieses Werk dauert, indirekt jeden Musiker des Orchesters dazu, seine Aufmerksamkeit positiv anzuwenden  – die sonst mit sinnlosen Träumereien oder Fantasien, die für seine innere Entfaltung nur wenig förderlich wären,  vergeudet würde.

Johannes Brahms 1833-1897

Obendrein wird diese Musik, die ein Genie dank seiner Aufmerksamkeit geschaffen hat, später Jahr für Jahr und manchmal sogar über Jahrhunderte die Aufmerksamkeit der Mitglieder von Sinfonieorchestern arbeiten lassen, ohne dass sich diese unbedingt bewusst sein mögen, was in ihnen vor sich geht. Man kann daher sagen, dass ein Komponist wie Beethoven dank seiner Aufmerksamkeit und seiner großen Konzentrationsfähigkeit ungewollt für all die Ausführenden eines Orchesters zu einer Art „spirituellem Meister“ geworden ist und in gewissem Sinne auch für die Zuhörer!

Kann man sich die langen Jahre der Konzentrationsarbeit vorstellen, die ein Pianist braucht, um dahin zu kommen, ein Werk wie das Klavierkonzert Nr.5 von Beethoven aufzuführen, oder ein Konzert von Brahms, welches sehr schwierig ist und von ihm eine außergewöhnliche technische Perfektion verlangt? Oder kann man sich vorstellen, wie viel hartnäckiges Konzentrationstraining erforderlich ist, damit eine große Sängerin vor einem strengen Publikum eine Oper von Puccini, wie „Madame Butterfly“ oder „Turandot“ auswendig singen kann? Nun kann man vielleicht verstehen, wie viel mehr Konzentration und, vor allem, geteilte Aufmerksamkeit nötig sind, damit ein großer Komponist ein sinfonisches Werk schreiben kann (wie z.B. die Zweite Sinfonie von Gustav Mahler, die „Auferstehungssinfonie“), die für ihre Aufführung eine derart große Zahl verschiedener Instrumentalisten benötigen wird und wie die Erschaffung eines Universums en miniature sein wird, in dem sich so viele verschiedenen Sachen gleichzeitig abspielen!

Gustav Mahler 1860-1911

Man kann daher sehen, dass es bei jeder großen künstlerischen Leistung immer die Aufmerksamkeit ist, die die dominierende Rolle spielt. Dank ihrer hört die positive Wirkung dieser Werke nicht auf, sich über die Welt auszubreiten, noch Jahre nach dem Tod des Komponisten. So werden sie für andere Männer und Frauen, die sich auf einem künstlerischen oder spirituellen Weg betätigen, zu einer Inspiration und einem Ansporn, ihre Aufmerksamkeit zu meistern.

Zudem kann man nur voller Bewunderung sein, wenn man bedenkt, dass die Musik auch lange nach dem Verschwinden eines großen Genies (wie Beethoven, Brahms, César Franck oder Respighi) nicht aufhört, Gefühl und Geist zahlloser Menschen zu nähren, indem sie diese erhebt und ein wenig Licht in ihr Leben bringt, ein Licht, das nicht von dieser Welt ist und das ihnen nach und nach eine unverhoffte Tür zu einem anderen Aspekt ihrer Natur öffnen kann, den sie in den Tiefen ihres Wesens tragen, ohne es gemeinhin zu wissen.
Außerdem hilft die Musik eines solchen Genies der Menschheit unaufhörlich auf anderen Ebenen, denn, kann man sich wirklich die erstaunliche Anzahl von Personen in der ganzen Welt vorstellen, die die Schöpfungen eines großen Komponisten wie Beethoven finanziell unterstützt haben, seit er diese Erde verlassen hat – während er selber bis zum Hals in Schulden steckte, als er starb. Die Ausführenden der Orchester, die Solisten, die Dirigenten, sowie deren Familien und nicht zu vergessen, die Drucker der Musik, etc. werden dank der Arbeit eines einzigen Menschen – oder, vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dieses Giganten: Beethoven – materiell unterhalten! Was für eine kolossale Arbeit ist von diesem großen Musiker (der nur 57 Jahre lebte) geleistet worden, um es zu schaffen, eine so große Menge von Werken zu hinterlassen, und das trotz des furchtbaren Handicaps seiner Schwerhörigkeit, die sehr bald in seinem Leben anfing. Hat er übrigens nicht eines Tages entrüstet gesagt: „Meine Musik besteht nur zu einem Prozent aus Inspiration, die restlichen 99 Prozent sind Transpiration!“
Der Mensch dieser Welt, in die Finsternis seiner spirituellen Unwissenheit getaucht, kann nicht verstehen, in welchem Sinne ein großer Mystiker oder ein großer Künstler gewissermaßen geopfert wird! Er kommt auf diesen Globus mit der Bestimmung, für die Menschheit geopfert zu werden, um ihr zu helfen, den Sinn ihres Daseins auf diesem Planeten zu verstehen. Ein großes musikalische Genie ist manchmal dazu verurteilt, sein ganzes Leben in Isolation oder im Elend zu verbringen, ohne einen anderen Wunsch in sich, als sich mit seinen Schöpfungen zu beschäftigen und so ein rätselhaftes Schicksal zu erfüllen, das der Mehrheit derer, die diese Erde bevölkern, unbegreiflich bleiben wird.

Statt das wertvolle Werkzeug ihrer Aufmerksamkeit mit Gedanken und Tätigkeiten zu vergeuden, die keinen Wert haben, wie es die meisten Männer und Frauen tun, kämpft das musikalische Genie, von einem geheimnisvollen Instinkt angetrieben, der das Verständnis der Masse übersteigt, unaufhörlich mit sich selbst, um alle seine Kräfte und seine gesamte Aufmerksamkeit in dem einzigen Ziel zu konzentrieren, seine Schöpfungen das Licht der Welt erblicken zu lassen. Denn nur durch die ständige Opferung seiner selbst und all dessen, was ihm gewöhnliche zerstreuende Vergnügungen bringen könnten, erreicht er, genügend konzentriert und innerlich still zu sein, um die geheimnisvolle Stimme zu hören, die in seine Ohren die erhabenen Inspirationen flüstert, die später seine Zuhörer in die Welt der Götter entführen werden. Daher profitiert nicht nur die gesamte Menschheit von der harten Arbeit und dem Opfer eines großen Genies, sondern er selbst zieht gleichermaßen einen Nutzen daraus, denn er hat seine Aufmerksamkeit sein Leben lang trainiert, so wie es ein Aspirant während seiner Meditationsübungen zu tun versucht. Und selbst wenn es wahr ist, dass der zu zahlende Preis sehr hoch ist, kann es nicht anders sein im Hinblick auf das aufsehenerregende Resultat für die Welt, wenn der Mensch seine Aufmerksamkeit in einer so positiven Richtung anwendet.

Wenn jemand das Geschenk seines Lebens auf eine konstruktive Weise angewendet hat, lässt er nach seinem Weggang nicht nur eine segenbringende Spur zurück, sondern er ist auch ein Vorbild für die Menschheit, die nun voller Hoffnung in die Zukunft schauen kann, statt an den selbst-zerstörerischen Glauben an ein materielles Glück gefesselt zu bleiben, das unmöglich zu erreichen ist.

Die Aufmerksamkeit des Menschen kann mit der Atmosphäre verglichen werden, die die Erde umgibt und dank derer alleine man das Licht des Tages und das Blau des Himmels sehen kann; je weiter man sich aus der irdischen Atmosphäre entfernt, desto mehr Schwärze kommt einem entgegen. Das gleiche gilt für den Menschen; ohne seine Aufmerksamkeit, dank derer allein er sich mit dem Licht seines Himmlischen Wesens wiedervereinigen kann, verliert er sich mehr und mehr in einem Zustand einer quasi dunklen Isolierung.

Camille Saint-Saëns 1835-1921

Der unermessliche Raum des Kosmos besteht nur aus ewiger Dunkelheit, hier und da mit kleinen leuchtenden Punkten bestreut, von verschiedenen Galaxien und Sternen stammend, die diese bewohnen, durch unglaublich weite Abstände getrennt.  Das musikalische Genie oder der große Mystiker kann gewissermaßen mit einem der kleinen Lichtpunkte im Universum verglichen werden, der die Dunkelheit, in die die Menschheit getaucht ist, mit seinen Strahlen zu durchdringen sucht. Er ist wie ein einsamer Leuchtturm im unendlichen Ozean von Männern und Frauen aller Rassen, die, wie die Wogen des Meeres, unaufhörlich geboren werden und sterben, ohne den wahren Sinn ihrer Existenz auf diesem Globus zu verstehen.
Sobald eine Energie in Zeit und Raum Form angenommen hat, wird sie sofort Beute des unerbittlichen Gesetzes der Schwere. Und wenn der Aspirant seinen Energien nicht eine aufsteigende Richtung gibt, was von ihm unweigerlich bewusste, nicht nachlassende Bemühungen erfordert, können diese Energien nicht anders als dem Gesetz der Anziehung und der Schwere zu gehorchen und den Weg einzuschlagen, der ihnen den geringsten Widerstand bietet, das heißt, nach unten. Man kann nicht umhin, dieses Phänomen in der gesamten Schöpfung festzustellen, einschließlich bei Pflanzen, Tieren und Menschen.

Aufgrund seiner extremen Sensibilität ahnt ein großer Komponist intuitiv das Problem der Schwere, die unaufhörlich seine künstlerischen Verwirklichungen bedroht; und er ist tatsächlich ständig damit beschäftigt, sogar ohne sich dessen bewusst zu sein, gegen diese absteigende Kraft zu kämpfen, während er von seiner Arbeit des Schaffens absorbiert ist.

Ein großes sinfonisches Werk enthält ständige Überraschungen bei der Entwicklung seiner musikalischen Themen, Harmonien und Rhythmen, Überraschungen, die nicht aufhören, insgeheim auf das Wesen des Zuhörers in einer Weise einzuwirken, die ihn von seinem Intellekt entfernt und ihm hilft, an einen Ort in sich selbst hinabzusteigen, von wo aus er beginnen kann, seltsame Empfindungen wahrzunehmen, die ihn erheben und die für ihn normalerweise unzugänglich sind. Daher gelingt es der Musik, die er gerade hört, nicht nur, sein Gefühl zu nähren, sondern sie hilft ihm darüber hinaus, eine seltsame Kontinuität seines Seins zu fühlen, ohne dass er merkt, wie diese in seinem Wesen entstanden ist – eine geheimnisvolle Kontinuität des Seins, die er für gewöhnlich nicht besitzt.
Da ein großer Komponist von dem unwiderstehlichen Wunsch nach Perfektion in seinen Schöpfungen beseelt ist, gibt er seiner Musik jedes Mal, wenn er fühlt, dass diese Anziehung der Schwere in seinem Werk überhandzunehmen droht, instinktiv einen neuen Impuls, bald durch die Nutzung unerwarteter Modulationen in der Harmonie, bald durch eine neue Variation des Anfangsthemas, oder auch durch die Überlagerung des Hauptthemas mit sekundären Themen, oder durch die Verwendung anderer, noch imposanterer Rhythmen. Der Komponist vermeidet somit, dass die Musik, die er  niederschreibt, sein Interesse verliert, sowie sein Vermögen, die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu halten.

Vielleicht ist das der Grund, dass die Männer und Frauen, die ein großes musikalisches Werk hören (wie „Psyché“ von César Franck oder auch seine Sinfonie), nicht müde werden, es wieder hören zu wollen, um in sich diese seltsame Kontinuität des Seins wiederzufinden, verbunden mit einem rätselhaften Empfinden einer „ewigen Gegenwart“, die diese Musik so geheimnisvoll in ihrem Wesen hervorruft und die sie in der Betriebsamkeit des gewöhnlichen Lebens nicht erfahren können.

So wie diese großen Künstler, die, dank ihrer extrem hohen Sensibilität, intuitiv die richtigen Momente fühlen, in denen sie ihren musikalischen Schöpfungen neue Energie zuführen müssen, muss auch der Aspirant lernen, die entscheidenden Augenblicke zu erkennen, in denen seinen Meditationsübungen ein neuer Impuls gegeben werden muss, wenn die absteigende Kraft, die die Schwere in seinem Leben ausübt, an dem Punkt ist, wieder die Oberhand zu gewinnen, und seine Konzentration anfängt nachzulassen.

Die Schöpfungen eines großen Komponisten geben immer den Eindruck einer seltsamen fortlaufenden Spontanität; und sie können nur in ihm entstehen, wenn er von einer ungewöhnlichen inneren Stille erfüllt ist; denn nur in den Momenten, in denen es dem Komponisten gelingt, in sich selbst hinabzusteigen, um konzentriert zu sein und in sich wenigstens einen gewissen Grad der Stille zu schaffen, ist es ihm möglich, seine großen Inspirationen zu empfangen. Und wenn man später seine Musik hört, findet man dort jeden Augenblick etwas erstaunlich Neues.

Jeder authentische künstlerische oder mystische Ausdruck gehört zu einem anderen Universum, jenseits der räumlich-zeitlichen Welt, denn letztere befindet sich tatsächlich am unteren Ende der Stufenleiter der Schöpfung. Im Vergleich mit einer anderen, dem Menschen möglichen Bewusstseinsform, die mit einem hohen Preis verknüpft ist, ist sein gewöhnlicher Geisteszustand nichts anderes als Finsternis.

Richard Strauss 1864-1949

Ohne dass sich der Hörer dessen bewusst ist, erzeugt ein großes sinfonisches Werk (wie „So sprach Zarathustra“ oder die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss) unaufhörlich eine subtile innere Stille in ihm (die Stille, die der Komponist selbst bei seinem Schaffen erfahren hat) sowie das Gefühl einer fortlaufenden Spontanität, die sich in der ganzen Zeit, in der er die Musik hört, fortwährend erneuert. Und jedes Mal, wenn er sie wieder anhört, vermittelt sie ihm auf geheimnisvolle Weise weiter den Eindruck, immer neu und spontan zu sein.

Da der Mensch außerdem im Allgemeinen nur an seiner Oberfläche lebt, beginnt er in dem Maße, wie er von der Musik absorbiert wird, der er zuhört, in sich selbst hinabzusteigen (ohne es überhaupt zu merken) und sich, wie vorher gesagt wurde, an eine Stelle in sich versetzt zu finden, wo er sich für gewöhnlich nie befindet. Und da die Musik seine Aufmerksamkeit weiter geheimnisvoll gefangen hält und ihm hilft, in diesem besonderen Zustand zu bleiben, der ihm ungewohnt ist, kann ein Moment kommen, wo er ein solches Gefühl der Erhebung erlebt, dass die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu einem einzigen Punkt in seinem Bewusstsein verschmelzen. Daher wird die Musik eines großen Komponisten, indem sie in veranlasst, diesen Abstieg in sich vorzunehmen, für den Zuhörer zu einer Art spiritueller Lehre ohne Worte!

Die Kraft, geboren aus der außergewöhnlichen Aufrichtigkeit, die einige seltene Komponisten im Moment ihrer schöpferischen Tätigkeit besitzen, ist etwas, was nur von dem verstanden und geschätzt werden kann, der sie in der einen oder anderen Form selbst erfahren hat. Die Inspiration und die ästhetischen Gefühle, die ein Genie in diesen Perioden der Kreativität ergreifen, können nur dann in ihm entstehen, wenn er sich in einem Zustand größter Empfänglichkeit befindet, was jede Note, die er schreibt, in gewisser Weise unvermeidbar macht. Anders gesagt, jede Note des Themas oder der Harmonie geht dorthin, wo sie hingehen muss und nirgend anders wohin, im Zuhörer das seltsame  Gefühl erweckend, eine offenkundige Wahrheit wiederzuentdecken, die er bereits aus einer rätselhaften Quelle zu kennen vermeint, selbst wenn er diese Musik in Wirklichkeit zum ersten Mal hört.

Unabhängig von den tiefen Gefühlen und den erhabenen Einflüsterungen, die gewisse Meisterwerke übertragen (gleich einem geheimnisvollen Wind, der aus einer seltsamen und unsichtbaren Landschaft bläst und der Menschheit leise eine subtile Botschaft zuraunt), bilden die Art besonderer Zartheit und ungewohnter Liebe, welche die Musik manchmal der menschlichen Seele übermittelt, zweifellos den wichtigsten Beitrag auf dem Gebiet der Kunst.

Diese Art Liebe kann in keiner Weise mit der gewöhnlichen Liebe verglichen werden, die man gemeinhin kennt und die immer außen auf eine Sache oder auf jemanden gerichtet ist und hauptsächlich aus einem Verlangen heraus geboren wird; eine solche Liebe ist unbeständig und unvorhersehbar, beeinflusst von äußeren Umständen und den Bedürfnissen des Augenblicks. Sie ändert sich wie der Wind und verwandelt sich sogar oft ins Gegenteil!

Die ungewohnte Liebe, die von manchen musikalischen Werken ausstrahlt, spricht in der Sprache der Götter subtil zum Herzen des Menschen, indem sie ihn manchmal ohne ersichtlichen Grund zu Tränen rührt. Sie kommt zu ihm wie eine Gnade, die ihm den Weg zu seinem Inneren zeigt, insgeheim auf seine Empfindungen einwirkend und seinen Geist für etwas Höheres öffnend, das er in seinem üblichen Zustand nie empfinden oder erfahren hätte können.

Beethoven 1770-1827

Bei der Betrachtung dieses erstaunlichen Bildes Beethovens ist es unmöglich, nicht von den Augen dieses großen Genies betroffen zu sein. Wer wirklich zu sehen und zu verstehen weiß, muss unbedingt fühlen, wie sehr der seltsame Blick dieses außergewöhnlichen Menschen aus den Tiefen seines Seins kommt und wie sehr er, ohne das notwendigerweise wissen zu müssen, mit einer anderen Dimension verbunden war, jenseits der sichtbaren Welt, von wo er seine außerordentlichen Inspirationen empfing.

Außerdem merkt man an der Art, wie er sich, ans Klavier gelehnt, aufrecht hält, dass er ist, was man als „in sich gesammelt“ bezeichnen könnte, oder auch, dass er ein vollständiges Wesen oder besser, ein extremes Wesen ist. Sein Kinn drückt die unbeugsame Entschlossenheit aus, die ihn sein ganzes Dasein hindurch begleitet und ihm erlaubt hat, sich von dem furchtbaren Drama seiner Schwerhörigkeit nicht überwältigen zu lassen und trotz dieses Fluchs weiter zu kämpfen, um sein Schicksal zu erfüllen.

Man kann nicht umhin, von der äußersten Aufrichtigkeit bewegt zu sein, die das Gebet dieses großen Menschen ausdrückte: „Herr, lass nicht nach, mich zur Vollendung zu treiben.“
Welche Inspiration für einen Sucher auf einem spirituellen Weg!

Jedoch, trotz allem, was über die Hilfe gesagt wurde, die die große Musik geben kann, um das Gefühl und die Intuition dessen zu nähren, der sie hört, muss genauer gesagt werden, dass sie einem Aspiranten keinesfalls die Anstrengungen ersparen kann, die er zwangsläufig machen muss, wenn er wirklich durch eine direkte Erfahrung sein Ursprüngliches Wesen erkennen möchte.

Artikel erschienen in der Zeitschrift  le 3ème Millénaire Nr. 54

 

Zwei bemerkenswerte Interpreten:

Pablo Casals 1876-1973

Hélène Grimaud