10 – Der Sinn fûr das Geheimnisvolle

Um sein Üben lebendig zu erhalten, muss der Sucher sein Interesse anregen und erneuern, indem er den Sinn für das Geheimnisvolle kultiviert.
Das Gespür für das Geheimnisvolle in uns zu bewahren bedeutet, zu fühlen, dass das, was wir suchen, unendlich weit jenseits unserer selbst liegt; dass die Bedeutung des Übens und der Einsichten, die wir daraus ziehen, ständig in Frage gestellt werden muss, damit wir uns nicht auf vorgegebene Antworten beschränken, nicht einmal auf die von Salim gegebenen. Er bewahrte stets einen sehr hohen Grad dieses Sinnes für das Geheimnis des Universums in sich, für das Geheimnis unserer Anwesenheit auf dieser Erde, dieser Arbeit an uns selbst, und so weiter.

Les Fruits du Chemin de l’Eveil (Die Früchte des Weges zum Erwachen)

Kapitel 1 – Der Sinn für das Geheimnisvolle

Damit ihm bei einer so wichtigen Vorgehensweise geholfen werde, einer so ernsten und außergewöhnlichen Vorgehensweise, die für die Mehrheit der Männer und Frauen, die diese Erde bewohnen, im Allgemeinen unerreichbar bleibt, muss der Sucher – ohne sich in kindlichen Vorstellungen zu verlieren – den Sinn für das Geheimnisvolle hinsichtlich dessen, was er spirituell zu erreichen sucht, kultivieren.
Denn die Suche nach seinem Ursprung – mit anderen Worten nach dem, woraus er aufgetaucht ist und in was er wieder aufgenommen werden wird, wenn unerwartet der schicksalhafte Moment eintreten wird, an dem er diese existentielle Welt verlassen muss – wird ihn schließlich dahin führen, sich dem Unendlichen gegenübergestellt zu sehen.
Es muss betont werden, dass alle höheren Zustände des Seins und Bewusstseins, die er in bestimmten Augenblicken während seiner Meditationssitzungen oder bei seinen Bemühungen, die er während seiner Tätigkeiten im äußeren Leben macht, erfahren kann, von Natur aus noch lange Zeit nur Rätsel bleiben können, die ihn übersteigen. Und zu seinem großen Glück bleibt dieser Aspekt seines Wesens in einem höheren oder geringeren Grad ein Geheimnis jenseits seines menschlichen Verständnisvermögens, denn solange das Unendliche ein Rätsel bleibt, das sich ihm entzieht, wird er getrieben werden, seine Pflicht gegenüber diesem Aspekt seiner Doppelnatur nicht zu vernachlässigen, anders gesagt, zu versuchen, dieses Unaussprechliche Unpersönliche Empfinden, zu dem er erwacht ist, in sich lebendig zu erhalten.
Er muss erkennen, dass es von größter Wichtigkeit für ihn ist, ständig diesen Sinn für das Geheimnisvolle in sich zu tragen, damit seine Meditation nicht nach und nach in eine banale, routinemäßige Praxis absinkt, wie es bei so vielen Suchern der Fall ist, darin inbegriffen eine ansehnliche Anzahl von Klöstern und Ashrams, im Abendland wie im Orient – eine Routine, die ihnen tragischerweise den Weg zur Entdeckung ihres Himmlischen Ursprungs verbaut.
Um unterstützt zu werden bei seinen Bemühungen, innerlich tief gegenwärtig und seiner selbst bewusst zu bleiben – eine besondere Weise des Seins, die ihm völlig ungewohnt ist, die sich jedoch für das, was er in sich zu verwirklichen sucht, als notwendig erweist –, muss der Sinn für das Geheimnisvolle in ihm ständig am Leben erhalten werden, wobei er ihn überall und in allem, was er tut, begleitet: das Geheimnis dieses rätselhaften schweigenden Rufes, der sich in ihm in den am wenigsten erwarteten Momenten bemerkbar macht und der ihn übersteigt, das Geheimnis des Unpersönlichen, das er in sich trägt und das er erkennen und verstehen möchte, das Geheimnis des Kosmos, das Geheimnis des Zieles der Schöpfung, das Geheimnis des eigenen Lebens, seines Bewusstseins, seines Geistes usw.

Im Grunde ist alles, was in der manifestierten Welt existiert, ein Geheimnis.

Wenn es ihm in manchen Momenten gelingt, sich seiner selbst auf eine Weise bewusst zu sein, die er nicht kennen kann, solange er in seiner üblichen Bedingung des Seins gefangen ist, wird er, ohne es für gewöhnlich zu wissen, entdecken, dass es im Leben nicht einen Augenblick gibt, wo er sich nicht dem einen oder anderen Geheimnis gegenüber sieht: das Geheimnis seines Geistes, seiner Fähigkeit zur Reflektion, seiner Fähigkeit, Mitgefühl, Freude und Schmerz oder auch Verwunderung zu empfinden, wenn er den Nachthimmel betrachtet, der mit zahllosen Gestirnen übersät ist, die im unermesslichen Raum des Kosmos verteilt sind und in ihm ein, er weiß nicht welch seltsames und unbeschreibliches Gefühl oder eine schweigende Erinnerung hervorrufen, vor allem hinsichtlich der beunruhigenden Frage seines Ursprungs.
Der Sucher wird feststellen, dass in dem Moment, in dem er ein wenig zu dem Geheimnis des Unpersönlichen, das er in sich birgt, erwacht, gleichzeitig auch in seinem Empfinden eine Veränderung geschieht, und dass umgekehrt die Veränderung in seinem Empfinden, wenn es ihm gelingt, diese zu vollziehen, dazu beiträgt, in seinem Wesen den Sinn für das Geheimnisvolle anzuregen. Jedoch muss er sich darüber klar werden, dass weder das eine noch das andere passiv in ihm geschehen kann; seine bewusste Teilnahme ist notwendig, um beide zu aktivieren.