Wieviel Wahl habe ich in meinem Leben? Was ist die Befreiung? Wie kann man Erleuchtung erfahren?
Alle diese Fragen und viele andere beleuchtet Edward Salim Michael, ein Meister, der mit unendlichem Mitgefühl den Aspiranten auf dem Weg führt, den er selbst zu höchsten Verwirklichungen gegangen ist, und dessen Hindernisse und Fallen er kannte.
Um Erleuchtung zu erfahren, muss der Mensch zunächst aus dem „Tagschlaf“ herauskommen, in den er, seiner göttlichen Natur nicht bewusst, für gewöhnlich versunken ist; eine Situation, die ihn zu einem „tragisch unvollendeten Wesen“ macht.
Schritt für Schritt, in einer für alle verständlichen Sprache, erklärt der Autor die Bedingungen für ein Wiedersehen des Menschen mit sich selbst.
Von diesem Werk geht eine erstaunliche Kraft aus, die die Intuition und das Gefühl des Lesers anspricht. Ein Buch, auf das man zweifellos immer wieder zurückgreifen wird.
Kapitel 5 – Geistige Passivität und Trägheit
Jeder Aspirant, der sich auf einen spirituellen Weg gemacht hat, muss ununterbrochen auf der Hut sein, um einer bestimmten Gefahr zu begegnen, die bei jedem Schritt auf ihn lauert und die das Risiko in sich birgt, ihn praktisch schon am Anfang seines Abenteuers in einer unsichtbaren Gegend untergehen zu lassen – einer Gegend, deren Gesetze einem Universum angehören, das er in dem Geisteszustand, in dem er seine Reise antritt, nicht hoffen darf zu verstehen.
Er muss aufpassen und hoch wachsam bleiben, wenn er sich nicht auf dem Weg verirren will und sich aufrichtig wünscht, sich und die Wirklichkeit hinter all den sichtbaren Erscheinungen zu erkennen, ganz gleich, ob es sich dabei um Lebewesen oder um scheinbar leblose Dinge handelt.
Zunächst einmal muss er die Tatsache akzeptieren, dass in jedem Mann und in jeder Frau fast ausnahmslos, und das seit ihrer frühesten Kindheit, die Tendenz zu einer gewissen Passivität des Geistes besteht – einer besonderen Art der Trägheit, die ihnen wegen ihrer Subtilität verborgen bleibt und sich im Grunde genommen kaum von der eines Tieres unterscheidet. Auch der Sucher kann diesem Problem nicht entgehen, trotz eines gewissen Maßes an Begeisterung, die er am Anfang seiner spirituellen Reise verspüren mag.
Wenn es ihm möglich wäre, würde der Mensch sich einfach gehen lassen und in Ruhe alle Freuden genießen wollen, die das existentielle Leben ihm bietet, ohne etwas anderes zu tun! Er würde daher nichts anderes machen, als in einem Zustand immerwährender Trägheit zu verharren, der zwangsläufig zu einer Zerstörung seines Wesens und zum endgültigen Stillstand seiner Entwicklung führen würde. (…)
Ein Anfänger auf dem Pfad muss verstehen, dass er, nur weil er, durch sein spirituelles Streben angetrieben, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewisse Begeisterung empfunden hat, von der Konfrontation mit diesem grundsätzlichen Problem nicht ausgenommen sein wird. Die Passivität lauert jeden Augenblick auf ihn, einer Spinne gleich, die ihrer Beute auflauert. Wie jeder andere Mensch, trägt auch der Sucher den Keim dieser Neigung in sich, die in alles eingreift, was er im äußeren Leben tut. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sucht er die meiste Zeit nur die Leichtigkeit – auch wenn er eine spirituelle Übung macht.
Diese unmerkliche Passivität des Geistes ist für den Sucher im Allgemeinen nicht offensichtlich, denn wenn er unter ihrem Einfluss steht, identifiziert er sich auf eine besondere Weise mit ihr und wird sozusagen in diesen Zustand der Passivität umgewandelt. Und wenn er nicht von jemandem angeleitet wird, der dieses ernste Problem sehr gut kennt, ist es für ihn sehr schwierig, sich genügend davon loszureißen, um die Wirkung auf sein Wesen feststellen zu können.
Die Notwendigkeit des inneren Fragens
Der Sucher muss lernen, während des Tages einen ganz bestimmten fragenden Zustand einzunehmen. Es geht um einen Zustand schweigenden und lebendigen, nicht in Worte gefassten Fragens, der ihm im Rahmen des Möglichen helfen wird, den Beginn eines Erwachens in ihm zu erzeugen – das sich als unabdingbar erweist, wenn er beginnen will, sich und den Zustand der Passivität zu erkennen, in dem er für gewöhnlich lebt.
Dieser besondere Zustand des Erwachens, den er in bestimmten Augenblicken fühlt, nachdem er die notwendige Anstrengung gemacht hat, ihn in sich hervorzurufen, ist extrem anfällig und schwer aufrechtzuerhalten. Kaum fühlt der Sucher seine Gegenwart in sich, verliert er sie einen Augenblick später auch schon wieder und wird ein weiteres Mal in seinen gewöhnlichen Zustand der Abwesenheit und der Passivität des Geistes eingeschlossen. (…)
Es sei denn, es gelingt jemandem, im Aspiranten den glühenden Wunsch zu erwecken, sich von der eigentümlichen Betäubung, in die er versunken ist – und die, ohne dass er es merkt, ein Hindernis auf seinem Weg darstellt –, zu befreien, und es sei denn, man nimmt ihn an der Hand und führt ihn auf diesem so ungewöhnlichen und ihm unbekannten Weg (einem schmalen und gefährlichen Weg, den er mit eigenen Mitteln nicht finden kann), wird er nicht zu der Einsicht kommen, dass er, während er seinen Übungen nachgeht, unaufhörlich brennende Fragen in sich erzeugen muss, um gewisse Kräfte in seinem Wesen zu befreien, die seine Anstrengungen anfeuern und sie lebendig erhalten können.
Er muss sich solche Fragen stellen, wie sie für gewöhnlich nicht ohne sein Zutun in ihm entstehen können – so tief beunruhigende Fragen, dass sie ihn veranlassen, intensiv wach und innerlich vertieft zu sein:
„Wie wird mein Zustand nach dem Tod sein, wenn ich mir jedoch nicht erlaube, indem ich von Zustand spreche, mich auf irgendetwas Bekanntes in der Erscheinungswelt zu beziehen?“
„Aus welcher geheimnisvollen und unergründlichen Quelle bezieht mein Leben seinen Ursprung?“
„Welche, für meinen begrenzten Geist unbegreifliche Kraft, belebt mich in diesem Moment?“
„Was ist das Leben wirklich und was versucht es, auf so rätselhafte Weise in diesem ungeheuren Universum zu vollbringen?“
„Aufgrund welchen Geheimnisses funktionieren die verschiedenen Organe meines Körpers, deren jedes ein eigenes Leben besitzt?“
„Hat der Raum einen Anfang und ein Ende oder ist er in Wirklichkeit ohne jede Begrenzung?“
„Wie kann ich mir die Existenz all dieser Milliarden von Galaxien und Gestirnen erklären, die ein so unfassbar gigantisches Universum bewohnen und die voneinander durch schwindelerregende Entfernungen getrennt sind, und wie die tiefe, ewige Finsternis, die sie umgibt?“
„Was ist die wahre Natur dieser seltsamen Finsternis, die im Vergleich zu den winzigen Punkten der Sternenlichter einen so großen Teil des Kosmos einnimmt?“
„Sind, wie die unzähligen Zellen in meinem Körper, die, ohne von ihrer Existenz in mir zu wissen, jeden Augenblick geboren werden und sterben, die himmlischen Gestirne ebenfalls lebende Zellen im unermesslichen Körper des Kosmischen Wesens ? Und kommen auch sie auf Ebenen, die über mich hinausreichen, ständig ins Dasein und sterben, ohne von ihrer Existenz in Ihm zu wissen?“
„Ich bin so unendlich klein in diesem weiten Universum, dass ich in der Unermesslichkeit seines Raumes zu verschwinden und völlig unsichtbar zu sein scheine; existiere ich wirklich oder ist das nur ein Traum?“
Alle diese Fragen und noch viele andere müssen im Geist des Aspiranten in der Schwebe bleiben und er muss sich, was sie betrifft, jedes Kommentars enthalten. Sie müssen ihn ständig begleiten, um ihn hellwach und intensiv achtsam zu machen, aus Furcht, die Schwere könne wieder Macht über ihn gewinnen und ihn von neuem nach unten, in seinen gewöhnlichen Zustand der geistigen Passivität, ziehen.
Ein Aspirant auf dem Pfad muss, wie ein großer Wissenschaftler, ein „Sucher“ im wahrsten Sinne des Wortes werden, wenn er wünscht, einen bestimmten Seinszustand in sich zu erreichen, der ihm eines Tages erlauben wird, die Mauern des Gefängnisses, in dem sein weltliches Ich ihn eingeschlossen hat, niederzureißen und auf die weiten Lichträume seines Himmlischen Wesens zuzugehen.